Wandmalerei, Mural, mit einer farbenfrohen Figur, welche Bücher und Stifte in Händen hält und für Bildung wirbt
»Exzellente, kostenlose und inklusive Bildung für alle Chilen*innen jetzt!« heißt es auf der Flagge im Mural des Kunstkollektivs Brigada Ramona Parra, deren Wandbilder häufig von der Philosophie des Buen Vivir inspiriert sind. | Foto: Rodrigo Fernández | CC BY-SA 4.0

Decolonize Utopia!

Eine Vermitt­lung des Utopie­begriffs über Raum und Zeit

Am Beispiel eines Workshops mit lateinamerikanischen und deutschen Teilnehmer*innen zeigt sich, dass es je nach Standort unterschiedliche Zugänge zur Bedeutung von Utopien gibt. Was trennt und was vereint die Zukunftsvorstellungen indigener Aktivist*innen und progressiver Science Fiction? Und: Sind Utopien universalisierbar?

von Alexander Neupert-Doppler

15.08.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 404
Teil des Dossiers Utopie & Praxis

Was kann die Utopieforschung beitragen zu einer Zeitschrift wie der iz3w, die ansonsten mit der handfesten »Kritik der Weltordnung« (iz3w) beschäftigt ist? Nun ist Utopie ohne fundierende Kritik grundlos; Kritik ohne orientierende Utopie ziellos. Wie sich kritisches Denken am Bestehenden abarbeitet, so konkretisiert utopisches Denken die bestehende Möglichkeit. Utopien sind keine Abbilder der Zukunft, sondern Leitbilder ihrer Gegenwart.

Dabei erfüllen Utopien unterschiedliche Funktionen: Utopisches Denken beginnt mit der kritischen Negation bestehender Widrigkeiten, in ihm erfolgt die Artikulation von drängenden Bedürfnissen und der Emanzipation. Utopien befördern die Motivation zum Handeln. Dabei haben sich im Lauf der Jahrhunderte die Inhalte wie auch die Formen utopischen Denkens gewandelt: von der klassischen Roman-Utopie über die gelebte Siedlungs-Utopie bis zur Zukunfts-Utopie.

Wenn Utopie als historisches Phänomen gesehen wird, liegt die Frage nach dem Verhältnis zur (post)kolonialen Wirklichkeit nahe: Ist die Utopie, die als Phänomen ähnlich alt ist wie Kolonialismus und Kapitalismus, nur eine europäische Denkfigur oder ist sie universell? Dieser Frage wird anhand der drei genannten typischen Utopieformen nachgegangen.

Roman-Utopien: Von Utopia zur Insel Felsenburg

In der deutschsprachigen Utopieforschung gibt es – im Gegensatz zur internationalen – recht wenig Auseinandersetzung mit den kolonialen Aspekten des europäischen Diskurses um Utopie. Hilfreich sind daher Anstöße von außen. 2019 organisierte ich am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam mit Kolleg*innen den Workshop »Konkrete Utopien und Protest in Extraktivismusregionen«. Der Workshop fragte nach der heutigen Bedeutung von Utopien für soziale Bewegungen und Prozesse. Die Auswertung mit Aktivist*innen aus Bolivien, Deutschland, Ecuador und Peru, die gegen Raubbau in ihren Regionen aktiv sind, ergab: »Das Konzept einer gesellschaftlichen Utopie als Vorstellung eines fiktiven, noch zu erschaffenden Ortes, stellte sich als nicht ganz passend heraus, um die Ansätze aus Lateinamerika zu beschreiben.«

Unsere Diskussion wurde durch Missverständnisse erschwert, die sich aus der unterschiedlichen Verwendung von Utopie-Begriffen ergaben. Die Missverständnisse lassen sich in drei Schritten klären: Erstens geht es um die kritische Hinterfragung bestimmter Utopievorstellungen aus lateinamerikanischer Perspektive, zweitens um koloniale Aspekte im europäischen Utopiediskurs und drittens um den Utopiebegriff der »konkreten Utopie« nach dem Philosophen Ernst Bloch (1885-1977), welcher Vermittlung erlaubt.

Yanda Lenin Montahuano von der Nación Sapara del Ecuador gab im Workshop zu bedenken, dass ihm der Begriff Utopie bisher unbekannt sei. Er erinnere ihn an ‚Träume‘. In einem Radiointerview sagte er: »Es gibt einige Wörter, die ich bisher nicht kannte, zum Beispiel Utopie. Gestern habe ich einige Freunde gefragt, die haben mir gesagt: ‚Das ist etwas Erdachtes, das in der Zukunft passieren wird oder wofür gearbeitet wird, damit es passiert‘«. Damit ist vor allem eine Grundform utopischen Denkens getroffen, wie Thomas Morus (1478-1535) sie in seinem Roman »Utopia« (1516) entwickelt hat, nämlich das Erdenken einer besseren Gesellschaft.

Konkrete Utopie ist keine Fiktion

Utopie beginnt mit Kritik. Morus etwa kritisiert den beginnenden Kapitalismus und stellt den Zuständen in England die bessere Ordnung der fiktiven Insel Utopia entgegen: »Hier dagegen, wo allen alles gehört, ist jeder sicher, daß keinem etwas für seine persönlichen Bedürfnisse fehlt, sofern nur dafür gesorgt wird, dass die öffentlichen Speicher gefüllt sind« Seine Utopie spiegelt die reale Notlage der englischen Landbevölkerung, die vertrieben wurde, um der Schafzucht für den Handel Platz zu machen. Utopia ist also durchaus sozial und sogar demokratisch gedacht, es finden sich aber sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte, die eine koloniale Prägung aufweisen. Für Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan »zeigen Utopien […] seit Thomas Morus (1516) enge Verbindung zum kolonialen Projekt der Moderne. Nicht umsonst wies die Insel Utopia eine geographische Nähe zu dem damals gerade von den spanischen Kolonialherren erfundenen ‚Amerika‘ auf«. Nun ist allerdings das ‚überseeische‘ fiktive Utopia in Morus‘ Roman das gesellschaftliche Vorbild – im Gegensatz zur kolonialen Ideologie, die Europa als die überlegene Zivilisation setzt. Gleichwohl ist Kolonialismus auch für Morus so selbstverständlich, dass seine Utopier*innen ebenfalls Kolonien haben.

Montahuano griff im Workshop 2019 vor allem das Fiktionale an solchen Roman-Utopien auf: »Die (europäische) Utopie ist für uns Indígenas wie ein Traum, der erst in der Zukunft geträumt wird. Wir leben unseren Traum dagegen bereits jetzt – und der heißt: Den Regenwald retten oder das, was vom Amazonas noch übrig ist«. Aus seiner Perspektive erschien es unpassend, Vorstellungskraft auf eine bessere Gesellschaft zu verschwenden, die bloß ausgedacht ist. Gerade Roman-Utopien neigen zu solcher Abstraktheit, bei der ideologische Vorstellungen ihrer Herkunftsgesellschaft tradiert werden. Wenn etwa in der Roman-Utopie »Insel Felsenburg« (ab 1731) von Johann Gottfried Schnabel der Deutsche Albertus Julius vom Schiffbrüchigen zum Herrscher einer ‚utopischen‘ Südseeinsel aufsteigt, also Kolonialherr wird, so ist darin eher der Traum der Deutschen vom Kolonialreich zu erkennen als ein universaler utopischer Ansatz. Andererseits findet sich bei Louis-Sébastien Mercier in »Das Jahr 2440« (1771) im Paris der Zukunft auch eine Statue für den erfolgreichen Befreier der kolonialisierten Völker.

Einer kritischen Utopieforschung stellen sich, ausgehend von solcherlei Beispielen, drei wichtige Aufgaben: Erstens ist die Geschichte der (Roman-)Utopien auf koloniale Ideologie abzuklopfen. Zweitens wäre der Kanon zu öffnen auch gegenüber nicht-europäischer, (post)kolonialer Literatur, wie es etwa der postkoloniale Theoretiker Bill Ashcroft in seinen Studien über Utopismus in postkolonialer oder afrikanischer Literatur macht. Oder etwa Ralph Pordzik, der sich mit Roman-Utopien aus Australien, Neuseeland, Kanada, Indien und afrikanischen Ländern befasst. Ein Spezialgebiet ist die utopisch-dystopische Science-Fiction, der sich Eric D. Smith widmet (siehe Literaturliste).

Drittens darf nicht übersehen werden, dass auch der westliche Utopie-Diskurs Formen entwickelt hat, die über die literarische Roman-Utopie hinausgehen. Mit seinem Begriff der konkreten Utopie erweitert Ernst Bloch den Bezugsbereich utopischen Denkens. Wie bei Montahuanos Träumen geht es Bloch um ‚Dinge, die wirklich passieren‘. Literarische »Sozialutopien«, also Roman-Utopien, »fungieren nur inmitten anderer, eigener Utopiegebiete, die gesamte menschliche Kultur, ja auch die vom Menschen unabhängige Natur betreffend«, so Bloch in der »Tübinger Einleitung in die Philosophie«.

Siedlungs-Utopien: Von New Harmony nach Freiland

Karl Marx und Friedrich Engels nannten im Kommunistischen Manifest diejenigen ‚utopische Sozialisten‘, die auf gelebte Experimente setzen. Ihr Lieblingsgegner war der Frühsozialist Robert Owen (1771-1858). Owen teilt Morus Idee von individueller Bedürfnisbefriedigung durch »Das soziale System« (1826): »Um alle Vorteile der Zusammenarbeit zu erreichen, müssen die Menschen in kleinen Gemeinwesen […] versammelt werden«. Anders als Morus brauchte Owen dafür real existierende Orte. Hier ergibt sich eine Verbindung zwischen den Siedlungs-Utopien und dem Kolonialismus, wie der Utopieforscher Lyman Tower Sargent schreibt: »In den Kolonien sind mehr intentionale Gemeinschaften gegründet worden als in den Ländern, aus denen sie stammen«. (Ü.d.R.) Owen gründete solche Gemeinschaften im Vereinigten Königreich und in den USA.

Die verwirklichten Siedlungs-Utopien im Vereinigten Königreich waren Insellösungen im Meer des Marktes, woran sie nicht selten zugrunde gingen. Und bei den Siedlungen wie New Harmony (ab 1825) in den USA sparten Owen und Genoss*innen eine Frage aus: Wer wurde aus den Territorien vertrieben? Die Kritik des Kolonialismus blieb hier zumindest eine Leerstelle.

Unzweifelhaft kolonial ist die Siedlungs-Utopie von Theodor Hertzka (1845-1924), also die »Gründung seiner Freiland-Gemeinschaft in Afrika«. Hertzka bemühte sich 1894 um die Umsetzung seiner Freiland-Utopie in der Kolonie Britisch-Ost-Afrika (heute Kenia), ohne sich Gedanken zu machen, ob dies dort erwünscht sei. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Freiland von der zionistischen Utopie eines Theodor Herzl (1860-1904). Dieser geht sowohl in der Zukunfts-Utopie »Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage« (1896) als auch in der Roman-Utopie »Altneuland – Utopischer Roman« (1902) ausführlich auf das Verhältnis von Zionist*innen und Araber*innen ein. Ausgehend vom sich zuspitzenden Antisemitismus in aller Welt und angesichts der über einen langen Zeitraum stattfinden jüdischen Einwanderung in einer Region, die schon bald der Landstrich mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil war, gehörte zu Herzls Utopie die Möglichkeit des nachbarschaftlichen Zusammenlebens. Insofern ist es falsch, wenn heute Antizionist*innen die Siedlungs-Utopie des Zionismus als Siedlerkolonialismus bezeichnen.

Zum Zusammenspiel von Siedlerkolonialismus und Siedlungsutopien gibt es inzwischen eine Reihe lesenswerter Arbeiten, etwa von Karl Hardy oder Eve Darian-Smith. Was diese Verbindung nahelegt ist die Annahme der Siedler*innen, die neue Gesellschaft ließe sich in neuen Gemeinschaften herstellen, ob nun in Europa selbst oder in den Kolonien.

Utopien befördern die Motivation zum Handeln

Für Ernst Bloch hingegen sind die »Träumereien der Siedler« chancenlos, weil sie nicht den Übergang in eine neue Gesellschaft organisieren, sondern nur den vermeintlichen Rückzug aus dem Bestehenden. Hardy hingegen legt den Schwerpunkt auf die Perspektive der Kolonialisierten: »Die Tradition der Siedlerutopie muss im Hinblick auf die Folgen für die indigenen Völker kritisch bewertet werden« (Übersetzung der Redaktion).

Beim Workshop 2019 kam Mario Rodriguéz vom Wayna Tambo – Red de la Diversidad aus Bolivien zu dem Schluss, »dass die Idee von Utopien wenig hilfreich ist für die Kämpfe in den Anden«. Dagegen machte er den andinen Begriff des Buen vivir stark. An Stelle von Neugründung auf fremdem Territorium favorisiert er das Festhalten an traditionellen Verhaltensweisen in lateinamerikanischen Gemeinschaften. Er nannte Minga – gemeinsames Beitragen, Axni – gegenseitigen Austausch, T’inku – Umverteilung von Wohlstand, etwa durch Feste, und zu vermeidende Kutti – Herrschaft. Statt im Bruch mit der eigenen Lebenswelt, etwa im Aufbruch der Siedler*innen, will er »in der Anschauung der Eltern/Ahnen die Transformation finden«. Damit problematisiert er auch einen Bezugspunkt, der sowohl in den Roman-Utopien als auch in den Plänen von Owen eine Rolle spielt und den Utopie-Diskurs immer mehr prägt: Zukunft.

Zukunfts-Utopien: Vom Buen Vivir …

Fortschritt und Zukunft waren in Europa lange Zeit synonym. Für Oscar Wilde war der Zusammenhang klar. »Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien«. Bloch hingegen verwarf den Fortschrittsglauben als »Aberglaube an eine Welt, die von selber gut wird«. Fortschreiten könne nur, was bereits vor sich geht, Utopie aber sei eine »Möglichkeit, daß es sie geben könnte, wenn wir etwas dafür tun«. Es bleibt also, dass Utopien auf die Zukunft verweisen.

Rodriguéz dagegen nennt, neben Neoliberalismus und Kolonialismus, den Progressivismus als zentrale Problemstruktur: »Dieser ist die Ausdehnung eines einzigen Verständnisses von Zivilisation, von Entwicklung und von Fortschritt in der Welt«. Utopie und Fortschritt werden dabei von ihm synonym gesetzt, ebenso wie Buen Vivir und Tradition.

Marco Bazán von terre des hommes aus Peru verbindet dies mit unserem Naturverhältnis: »Die Klimakrise ist die Art der Natur zu sagen ‚Schluss jetzt!‘ Und das ist dann die Frage: Werden wir diese respektlose Umgangsweise mit der Natur fortführen, oder werden wir uns zurückbesinnen und die Natur mit Liebe und Respekt behandeln?« Das bedeutet: Innehalten statt Fortschreiten, besonders aber mit dem Akzent der Rückbesinnung.

Innerhalb der Debatte um das andine Konzept des Buen Vivir gibt es auch andere Stimmen. Alberto Acosta, der als Minister an der Aufnahme des Konzepts in die Verfassung Ecuadors mitwirkte, schreibt über diesen Prozess: »In ihren Artikeln finden wir Entwürfe für eine noch zu konstruierende Utopie«. Dabei warnt er davor, wenn als Buen Vivir »die Lebensweisen indigener Gemeinschaften idealisiert werden«. Für Acosta wäre also Buen Vivir eine andine Utopie.

Montahuano, Rodriguéz und Bazán würden dem wohl widersprechen: Sofern Utopie eine Fiktion bleibt wie in der Roman-Utopie, Neu-Gründung gegen Tradition stellt wie in der Siedlungs-Utopie oder Fortschritt in der Naturbeherrschung propagiert wie in vielen Zukunfts-Utopien, wären andine Vision und europäische Utopie nicht kompatibel.

Meine These ist, dass gerade die Form der Zukunfts-Utopie flexibel genug ist, um mit diesen Einwänden produktiv umzugehen. Konkrete Utopie ist keine Fiktion, sondern bezieht sich auf handelnde Akteure und vorliegende Tendenzen. Sie hat sich vom Fortschrittsglauben emanzipiert und bezieht sich stattdessen auf gegenwärtige wie vergangene gelebte Praxis, denn für Bloch gibt es auch »Zukunft in der Vergangenheit«

Ob es wie bei Rodriguéz um Minga und Anxi und T’inku geht oder bei Bloch um den mittelalterlichen Gemeinbesitz der Allmende: Eine Wiederbelebung des Zerstörten in verwandelter Form, etwa in der Utopie einer Commonisierung, ist denkbar. Möglich ist dies, so Bloch, aufgrund eines Weltzustandes »realer Ungleichzeitigkeit. Es wirken dann Antrieb und Reserven aus vorkapitalistischen Zeiten«. Auch wenn er dabei primär an handwerkliche und bäuerliche Traditionen in Europa denkt, die mit eigenen Utopien verbunden sind, so ist darin eine »tiefe Historizität« angelegt. Das Vergangene vergeht nicht, solange Verbrechen ungesühnt, aber auch Potentiale nicht eingelöst sind. Bazáns Deutung der Klimakrise korrespondiert mit Blochs hypothetischem Natursubjekt – für ein utopisches Buen Vivir?

… zur Weltrepublik


Die Überlegungen zum Potsdamer Workshop können als ein Lernen aus Missverständnissen verstanden werden. Wenn Montahuano erdachte Utopien gegen gelebte Träume stellt, wenn Rodriguéz traditionelle Praxen erdachten Möglichkeiten vorzieht und Bazán das Anhalten der Zerstörung dem Fortschritt entgegensetzt, so sind damit Kernbestände europäischer Utopien getroffen. Für den Soziologen Boaventura de Sousa Santos (2017) vertreten sie »nicht-westliche Konzepte« und nutzen »nicht-utopische Begriffe«. Wird aber mit dieser strikten Unterscheidung nicht eine notwendige Verständigung unterbrochen, die in einer globalisierten Welt notwendig wäre? Das Buen Vivir wäre dann eben als ein nicht-westliches Konzept festgeschrieben und dessen Perspektiven wären als nicht-utopisch festgelegt. Angesichts der kolonialen Ideologie in westlichen Roman-Utopien, kolonialer Praxis durch westliche Siedlungs-Utopien und einem naturbeherrschenden Fortschrittsglauben in westlichen Zukunfts-Utopien ist diese Gegenüberstellung verständlich.

Im Sinne einer Dezentrierung des (utopischen) Kanons als Teil postkolonialer Theoriebildung, wie es Ina Kerner vorschlägt, würde ich jedoch eine andere Strategie empfehlen, die drei Schritte umfasst. Erstens sind die nicht-westlichen Beiträge zu beachten, die sich selbst als Utopien verstehen. Bücher über »Black Utopia« von Alex Zamelin, »Afrotopia« von Felwine Sarr oder »Imagine Africa 2060« sind hier wichtige Bezugspunkte. Auch Ban Wangs »Chinese Visions of world order« wären utopietheoretisch ernst zu nehmen. Zweitens ist der selbstkritische Utopie-Diskurs des 20. Jahrhunderts, in den Bloch die Begriffe der »konkreten Utopie«, den Bruch mit den »Träumereien der Siedler« und die »Zukunft in der Vergangenheit« einspeist, für den Dialog über universalisierbare Visionen zu nutzen. Drittens ist eine Zuordnung von (Zukunfts-)Visionen zu fixen Kulturräumen – etwa mit dem Buen Vivir für Teile Lateinamerikas, Menschenrechte für den Westen und Tianxia für China – zu vermeiden.

Zwar gestand sich Bloch ein, dass ihn das gewaltige außereuropäische Material in die Verlegenheit brachte, es in »Das Prinzip Hoffnung« nicht angemessen würdigen zu können. Trotzdem gehört zum »Geist der Utopie«, wie Bloch schreibt, »ein Multiversum von Weltrepublik, damit die Verschwendung der abgeschlossenen Kulturen aufhöre und der Mitmensch, unter dem Namen Moral gemeint, auch geboren werden könne«.

Literatur

  • Blog des IASS Potsdam, Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS)
  • Acoasta, Alberto: Das ‚Buen Vivir‘ – Die Schaffung einer Utopie, in: juridikum 4/2009
  • Acosta, Alberto / Brand, Ulrich (2018): Radikale Alternativen – Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann
  • Ashcroft, Bill (2009): Remembering the future: Utopianism in African literature
  • Ashcroft, Bill (2016): Utopianism in Postcolonial Literatures
  • Bloch, Ernst (1923/1985): Gesamtausgabe. Daraus: Geist der Utopie, Erbschaft dieser Zeit, Das Prinzip Hoffnung, Etwas fehlt – in Tendenz-Latenz-Utopie, Gibt es Zukunft in der Vergangenheit?, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Experimentum mundi
  • De Sousa Santos, Boaventura (2017): A new vision of European
  • do Mar Castro Varela, Maria/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie
  • Drau, Indigo/Klick, Jonna (2024): Alles für Alle – Revolution als Commonisierung
  • Hardy, Karl (2012): Unsettling Hope: Settler-Colonialism and Utopianism
  • Kerner, Ina (2012): Postkoloniale Theorien zur Einführung
  • Mercier, Louis-Sébastien (1770/1989): Das Jahr 2440 – Ein Traum aller Träume
  • Morus, Thomas (1516/1998): Utopia, in: Grassi, Ernesto (Hg.): Der utopische Staat
  • Neupert-Doppler, Alexander (2015): Utopie – Vom Roman zur Denkfigur
  • Neupert-Doppler, Alexander (2022): Ökosozialismus – Eine Einführung
  • Owen, Robert (1826/1988): Das soziale System, in: Jauch, Liane/Römer, Marie-Luise
  • Pordzik, Ralph (2001): The Quest for Postcolonial Utopia
  • Sargent, Lyman Tower (2010): Utopianism
  • Schnabel, Johann Gottfried (1731/2012): Die Insel Felsenburg
  • Smith, Eva Darian (2017): Decolonising utopia
  • Smith, Eric D. (2012): Globalization, Utopia and Postcolonial Science Fiction
  • Wilde, Oscar (1891/2008): Der Sozialismus und die Seele des Menschen

Alexander Neupert-Doppler arbeitet zurzeit am DFG-Projekt »Dialektik der Pandemie – Zwischen Autoritarismus und Utopie« in Karlsruhe. 2015 erschien sein Buch »Utopie – Vom Roman zur Denkfigur«, 2018 erschien der Sammeband »Konkrete Utopien – Unsere Alternativen zum Nationalismus«.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 404 Heft bestellen
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