Der Fluss Euphrat in Rojava in einer kargen Landschaft. Die Autonomieregion steht inmitten von Krieg für Hoffnung und Selbstverwaltung.
Der Fluss Euphrat ist zentral für die Erzeugung von Strom in Rojava | Foto: Rojava Information Center

Unter ständiger Bedrohung

Das selbst­verwaltete Rojava ist für viele Linke vorbildlich

»Rojava« hat in den Ohren westlicher Linker einen besonderen Klang. In einer von Krieg und Autoritarismus geprägten Welt scheint die Autonomieregion für viele inzwischen der einzige Hoffnungsschimmer für die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft geworden zu sein. Wird in Rojava die Utopie bereits gelebt?

von Christopher Wimmer

08.08.2024
Teil des Dossiers Utopie & Praxis

»Kampf gegen den IS«, »Befreites Gebiet«, »Autonomie«, »Basisdemokratie und Geschlechtergerechtigkeit« – all dies sind bekannte Schlagwörter, die auf Plakaten und Aufklebern wohl immer noch das ein oder andere Hausprojekt in der Bundesrepublik zieren. Die Autonomieregion im Norden Syriens eignet sich wunderbar als Projektionsfläche. Doch wie gestaltet sich dieser ‚Nicht-Ort‘, denn das heißt Utopie übersetzt, in der syrischen Peripherie konkret? Vieles wurde dort bereits errungen. Die Bedrohung von außen bleibt dort Alltag.

Aus den Trümmern...

Rojava war ein Ergebnis des seit 2011 andauernden syrischen Bürgerkrieges. In dessen Verlauf gab das Regime von Baschar al-Assad in Damaskus zunehmend die Kontrolle über den Norden des Landes auf. Diese Lücke nutzten kurdische Kräfte, die ab 2012 eine Übergangsverwaltung aufstellten, welche nun unter dem Namen Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien fungiert. Seitdem verwaltet sich die lokale Bevölkerung selbst, basierend auf Prinzipien der direkten Demokratie, ökologischer Nachhaltigkeit und Frauenbefreiung. Während die Autonomieregion zunächst nur aus den kurdisch dominierten Kantonen Cizre, Kobane und Afrin bestand, hat sich das Gebiet seitdem stetig erweitert. Islamistische Gruppen wie al-Nusra und der sogenannte Islamische Staat wurden in Syrien militärisch zurückgedrängt. So kamen weitere, überwiegend arabisch geprägte Gebiete etwa um Tabqa, Raqqa oder Manbidsch zur Selbstverwaltung hinzu, die heute fast ein Drittel des syrischen Territoriums umfasst.

Alle Ethnien sollen ein poli­tisches Mitsprache­recht haben

Dominante Kraft des Aufbaus war dabei die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD), die 2003 auf Beschluss der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) gegründet wurde. Ebenso gehen die ideologischen und politischen Leitkonzepte der Selbstverwaltung, der demokratische Konföderalismus und die demokratische Nation, auf die Vorstellungen des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zurück. Das Ziel der Selbstverwaltung ist kein eigener (kurdischer) Nationalstaat, sondern die basisdemokratische Beteiligung aller Bewohner*innen Nord- und Ostsyriens. Alle ethnischen Gruppen sollen ein politisches Mitspracherecht haben. Dazu wurde ein Gesellschaftsvertrag aufgesetzt, der das Zusammenleben regelt. Hier werden zum Beispiel die Rechte der Frauen definiert oder die Abschaffung der Todesstrafe festgelegt.

International ist die Autonomieregion mit rund fünf Millionen Einwohner*innen nicht anerkannt, aber ihr multiethnisches Militärbündnis Syrische Demokratische Kräfte arbeitete im Kampf gegen den islamistischen Terror eng mit den USA und anderen westlichen Staaten zusammen. Zugleich attackiert jedoch die Türkei seit Jahren die Autonomiebestrebungen in ihrer Nachbarschaft, von welcher sie eine Sogwirkung auf die eigene kurdische Bevölkerung befürchtet. Die PYD gilt dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als eine PKK-Tarnorganisation und ist in der Türkei verboten. Seit 2018 hält Ankara den Kanton Afrin, die westlichste der Regionen der Selbstverwaltung, besetzt. Weitere Territorien im Norden Syriens wurden später mit der stillen Unterstützung Russlands unter türkische Kontrolle gebracht. Mit der Ansiedlung von in der Türkei lebenden Syrer*innen will Erdoğan die Zahl der Geflüchteten im eigenen Land senken und den Einfluss der kurdischen Mehrheitsbevölkerung in Nordsyrien untergraben: Vor der Invasion lebten in Afrin über 80 Prozent Kurd*innen, nun sind es weniger als 20 Prozent.

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… eine neue Welt erbaut

Trotz all dieser Hindernisse haben die Menschen in Nord- und Ostsyrien ein politisches System aufgebaut, dass man am ehesten mit dem Begriff der Rätedemokratie beschreiben kann. In den Interviews mit Vertreter*innen der Selbstverwaltung, die ich während eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts 2022 in der Region führen konnte, kristallisierte sich schnell eine übergreifende Gemeinsamkeit heraus: In Rojava geht es nicht darum, eine Regierung durch eine andere oder einen Staat durch einen anderen zu ersetzen, sondern darum, den Staat überflüssig zu machen. Zu diesem Zweck wurden seit 2012 auf der Ebene von Wohngebieten, Stadtteilen, Dörfern, Städten und Kantonen Räte zur Entscheidungsfindung und Selbstverwaltung eingerichtet. Die Basis und unterste Ebene dieses Rätesystems bildet die Kommune, in der sich die Bewohner*innen eines Stadtteils, mehrerer Straßen oder eines Dorfes zusammenfinden. Für sie ist die Kommune die erste Anlaufstelle, die offiziell wöchentlich bis vierzehntägig als Vollversammlung zusammentritt und idealerweise über verschiedene thematische Komitees verfügt. Diese können je nach den lokalen Bedürfnissen variieren, üblich sind jedoch Komitees für Gesundheit, Justiz und Selbstverteidigung.

Die Selbst­verwaltung steht mit dem Rücken zur Wand

Fragen der häuslichen Gewalt, der Zwangsheirat und der Polygamie werden von reinen Frauenkomitees behandelt. Alle weiteren Räte und Komitees werden von einer Doppelspitze geleitet, die immer aus einem Mann und einer Frau bestehen muss. Darüber hinaus haben autonome Frauenräte ein Vetorecht in den sie betreffenden Angelegenheiten. Sie ergänzen die gemischtgeschlechtlichen Räte auf allen Ebenen der Selbstverwaltung und üben erheblichen Einfluss aus. Die Beteiligung der Frauen am politischen Prozess ist zweifellos eine der wichtigsten Errungenschaften der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (iz3w 398). Darüber hinaus haben zudem die Jugend und ethnische und religiöse Minderheiten feste Quoten in den Räten. Während beispielsweise im Nordosten um die Städte Derik und Qamischlo zahlreiche Kurd*innen und eine große christliche Minderheit leben, sind die südwestlichen Regionen um Raqqa und Manbidsch überwiegend arabisch dominiert.

Äußere und innere Bedroh­ungen

Die massiven Angriffe der Türkei stellen ein existentielles Problem für die Selbstverwaltung dar. Seit Oktober 2023 greift Ankara fast täglich Militärposten sowie die zivile Infrastruktur an. Mit Drohnen, Haubitzen und Kampfflugzeugen führt die türkische Regierung einen Zermürbungskrieg. Ziele sind Wasserwerke, Ölraffinerien, Umspannwerke und auch Krankenhäuser. Solche Angriffe gelten international als Kriegsverbrechen. Laut der unabhängigen Medienagentur Rojava Information Center griff die Türkei allein 2023 den Nordosten Syriens insgesamt 798 Mal an, davon in 198 Fällen mit Kampfjets und Drohnen. Insgesamt kamen bei diesen Angriffen mindestens 105 Menschen ums Leben und 123 Menschen wurden verletzt.

Die Angriffe beeinträchtigen den Alltag der Menschen massiv. Viele Dörfer waren dadurch schon komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Die Bewohner*innen harrten dann im Dunkeln aus, Trinkwasserpumpen fielen aus, Handys und Laptops schwiegen. Viele fliehen aus der Region, die Selbstverwaltung steht mit dem Rücken zur Wand.

Unabhängig von diesen externen Faktoren, finden sich auch hausgemachte Probleme: Die demokratische Beteiligung in den Kommunen sinkt. In den Räten engagieren sich in erster Linie Menschen, die das System der Selbstverwaltung stark unterstützen oder PYD-Mitglieder sind. Sie fühlen sich dem Denken Öcalans zugehörig und haben häufig bereits vor 2012 politisch gearbeitet. Sie waren es auch, die mit dem Kriegsausbruch in Syrien die Chance zur Umsetzung des demokratischen Konföderalismus erkannt und genutzt haben. Durch ihre Dominanz besteht die Gefahr, dass die Räte auf den Kreis von PYD-Sympathisant*innen oder -Mitgliedern begrenzt bleiben. Menschen mit anderen politischen Ideen könnten ihnen somit eher misstrauen und die Räte nicht mehr als Orte ansehen, um ihre Kritik einzubringen. Die Räte laufen damit Gefahr, ihre Rolle als basisdemokratische Institution zu verlieren.

Trotz dieser Gefahren hat sich in Nord- und Ostsyrien ein einmaliges politisches System entwickelt, das sich gegen zahlreiche Bedrohungen behauptet hat. Zuversichtlich stimmt zudem, dass sich auch Verantwortliche der Selbstverwaltung weiterhin der Bedeutung der Kommunen als kleinste und wichtigste Einheit des Systems bewusst sind. Um diese Ebene zu stärken, hätten bereits im Frühjahr 2024 neue Kommunalwahlen stattfinden sollen. Aufgrund der türkischen Angriffe wurden sie jedoch bis auf weiteres verschoben. Rojava versucht weiterhin ein Stück gelebte Utopie zu sein, die ganz konkret im Alltag der Menschen einen Unterschied macht. Die alltäglichen Bemühungen der Selbstverwaltung, auch unter widrigsten Bedingungen eine direktdemokratische Beteiligung aller Menschen herzustellen, haben zweifellos Vorbildcharakter.

Christopher Wimmer lebt als Autor und Soziologe in Berlin. Für sein Buch „Land der Utopie? Alltag in Rojava“ recherchierte er für mehrere Monate in Nord- und Ostsyrien.

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