Erinnerung an das Massaker von Melilla: Menschen liegen auf dem Boden, eine Person hält ein Plakat.
Erinnerung an das Massaker: Überlebende simulieren die Situation am Grenzzaun von Melilla | Foto: Cléo Marmié

»Es ist keine einmalige Tragödie«

Interview mit Maite de lo Coco über die Todes­fälle in Melilla

Die Ereignisse an der spanischen-marokkanischen Grenze gingen als Massaker von Melilla in das dunkelste Kapitel jüngster Grenzgewalt ein. Am 24. Juni 2022 wurden an dieser europäischen Außengrenze 37 Menschen getötet und weitere 70 verschwanden spurlos. Der spanische Präsident Pedro Sánchez klassifizierte den Vorfall als »gewaltsamen Angriff auf Spaniens territoriale Integrität«. Das Irídia Centre of Defence of Human Rights und Border Forensics rekonstruierten den Fall und veröffentlichten Ende Juni 2024 ihre Rechercheergebnisse. Diese belegen Menschenrechtsverstöße sowohl der spanischen als auch die marokkanischen Behörden. Maite de lo Coco von Irídia berichtet von den Ergebnissen und den Forderungen der Überlebenden.

Das Interview führten Luca Apfelbaum und Anni Eble

14.08.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 404

iz3w: Warum entschied sich das Irídia Center zusammen mit Border Forensics, den Fall Melilla über fast zwei Jahre zu untersuchen?

Maite de Lo Coco: Die Ereignisse vom 24. Juni 2022 gehören zu den schlimmsten, die sich an den EU-Außengrenzen jemals ereignet haben. Die Bilder von Gewalt und Tod wurden europaweit bekannt, obwohl die Situation an der spanisch-marokkanischen Grenze sonst recht unterbelichtet ist. In Bezug darauf war es für uns mit der Aufarbeitung des 24. Juni wichtig, dass die Vorfälle dieses Tages in einem Kontinuum der Gewalt begriffen werden. Es ist keine einmalige Tragödie. Angesichts der mindestens 37 getöteten Menschen wollten wir ebenfalls gegen die Straflosigkeit dieser staatlichen Gewalt vorgehen. Diese Arbeit ist wichtig, um die Behörden dazu zu drängen, zu verhindern, dass sich diese Gewalt wiederholt, welche sich immer wieder gegen Schwarze Menschen richtet. Wir wollten auch aufzeigen, dass rassistische Motive der Grund für die Straflosigkeit von Täter*innen sind. Border Forensics kontaktierte uns kurz nachdem der Fall durch die spanische Staatsanwaltschaft im Dezember 2022 eingestellt wurde. Der Staatsanwalt verkündete, keine Beweise für ein Verbrechen gefunden zu haben. Kurz nach Weihnachten begannen wir mit der gemeinsamen Recherche. Wir mussten schnell handeln, um noch Überlebende zu finden und mit ihnen zu sprechen.

Was ist am 24. Juni an der Grenze Melilla-Nador genau passiert?

»Melilla steht in einem Konti­nuum der Gewalt«

Gut zwei Wochen vor dem Massaker brannte die marokkanische Polizei Lager von Schwarzen Migrant*innen in Nador/Nordmarokko nieder. In den Tagen danach verfolgte die Polizei die Menschen und versuchte sie in die Richtung der Grenze zu Melilla zu steuern. Die Überlebenden berichteten, dass die Polizei ihnen an der Grenze sagte, sie sollten sich zum Barrio Chino bewegen, dem Checkpoint an dem sich das Massaker ereignete. Die Polizisten drohten ihnen, dass sie binnen 24 Stunden dort sein sollten oder Konsequenzen fürchten müssten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits ausgehungert und geschwächt. Am 24. Juni trieb die marokkanische Polizei die Menschen mit Gewalt in den Checkpoint. Die spanische Grenzpolizei reagierte darauf mit dem Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas (Anti-Riot-Material). So etwas wird normalerweise genutzt, um Menschen zu zerstreuen. Dieser Checkpoint ist aber sehr eng und die Menschen konnten nirgendwo hin. Viele sind am Tränengas erstickt, andere wurden von der prügelnden marokkanischen Polizei so schwer verwundet, dass sie an ihren Verletzungen starben. Sanitäter*innen waren zwar vor Ort, aber diese kümmerte sich nur um die spanischen Einsatzkräfte. Die Geflüchteten, die es über die spanische Grenze geschafft hatten, wurden zurückgepusht und von den marokkanischen Behörden festgenommen und deportiert.

Warum haben die marokkanischen Behörden die Menschen nach Melilla getrieben?

Marokko nutzt Schwarze Migrant*innen manchmal als Verhandlungsmasse mit Spanien. Aus Unzufriedenheit über die spanische Positionierung zum Westsahara-Konflikt ließen marokkanische Behörden beispielsweise 2021 kurzerhand 8.000 Migrant*innen nach Ceuta, eine spanische Exklave im Nordwesten Marokkos, passieren. Der spanische Präsident erkannte daraufhin im März 2022 die annektierte Westsahara als einen Teil Marokkos an. Die kontinuierliche Gewalt und Straflosigkeit in der spanischen Exklave Melilla ist normalisiert, insbesondere gegen Schwarze. An der Grenze gibt es auch eine Asylstelle des UNHCR. Rassistische Kontrollen verhindern jedoch, dass die Menschen dorthin gelangen und Asyl beantragen können. Das alles wurde erst durch die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik ermöglicht. Migrant*innen werden von Drittstaaten instrumentalisiert und in das politische Spiel hineingezogen.

Wie bewerten Sie die Rolle der spanischen Behörden?

Die meisten Menschen starben an diesem Tag aufgrund der Gummigeschosse und des Tränengases, das die spanische Polizei einsetzte. Nachdem die spanische Polizei schon 2014 durch den Einsatz dieser Anti-Protest-Waffen 14 Menschen getötet hatte, wurde deren Verwendung untersagt. Nach einigen versuchten Grenzübertritten im März 2022 führte Spanien diese jedoch wieder ein.

Die Re­konstruktion der Gewalt

Bei unseren Recherchen fragten wir uns immer wieder, warum Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt wurden, obwohl die Menschen sich in diesem engen Checkpoint nirgendwo hinbewegen konnten. Ich denke, die spanischen Behörden hatten das Bild einer ‚Invasion von Migrant*innen‘ vor Augen und die Überzeugung, die Nation mit Gewalt verteidigen zu müssen. Viele richten ihre Aufmerksamkeit bei dem ‚Skandal‘ auf Marokko. Aber es ist wichtig, den Anteil Spaniens und Europas dabei zu benennen. Europa muss die Verantwortung dafür übernehmen, was es zu dieser Situation beiträgt. Umgekehrt werden in Europa genauso wie in Marokko vor allem an den Außengrenzen Migrant*innen getötet, ohne dass es Ermittlungen gibt.

Welche Methoden haben Sie angewendet, um die Ereignisse des 24. Juni zu rekonstruieren?

Zuerst war es für uns sehr wichtig, mit den Überlebenden zu sprechen. Wir glauben, dass die Migrant*innen am besten erklären und interpretieren können, was passiert ist und welche Gewalt sie erfahren haben. Die Aufnahmen aus den Interviews waren wichtige Zeugnisse, um die Fakten zu rekonstruieren.

Im Team von Border Forensics waren Expert*innen für räumliche Rekonstruktion. Sie sammelten und analysierten Beweise wie Satellitenbilder. Seitens der spanischen Behörden erhielten wir keinerlei Informationen oder Daten. Sie begegneten uns mit einer Politik des Schweigens. Border Forensics versucht zu zeigen, wie die Gewalt an dieser Grenze Schwarze Menschen betrifft, und recherchierte den Zusammenhang zu den diplomatischen Beziehungen zwischen Spanien und Marokko in den letzten 15 Jahren in Bezug auf Todesfälle von Migrant*innen. Außerdem sprachen wir mit zwei Journalist*innen, die damals vor Ort waren. Ihre Bilder mit Metadaten waren sehr wichtig für die zeitliche Analyse und Abfolge der Ereignisse. Wir konnten die Ereignisse Minute für Minute rekonstruieren und mit den journalistischen Bildern und Metadaten, sowie mit den Erzählungen der Überlebenden abgleichen.

Welche Forderungen formulierten die Überlebenden in den Gesprächen?

Sie wollen erfahren, wo die Verschwundenen verblieben sind. Ebenso fordern sie die Identifizierung der Toten, deren Körper immer noch in der Leichenhalle von Nador liegen. Sie wollen Gerechtigkeit. Viele Menschen wurden festgenommen, weil ihnen illegale Grenzübertritte und Gewalt gegen marokkanische Sicherheitsleute vorgeworfen wurden. Einige sind noch immer im Gefängnis. Hier wird ihre Freilassung gefordert.

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Haben die Ergebnisse der Ermittlungen politische oder juristische Konsequenzen? Hat die spanische Staatsanwaltschaft den Fall neu aufgerollt?

Nein, aber das ist keine neue Erfahrung. Wir haben unsere Ergebnisse zwei Abgeordneten vorgetragen und viel Medienarbeit geleistet. Das System der Straflosigkeit und Gewalt ist jedoch dauerhaft. Man wird verrückt, wenn man versucht, Antworten vom Staat und den Behörden zu bekommen. Es interessiert sie einfach nicht.

Wie würden Sie das Massaker von Melilla im Kontext der EU-Migrationspolitik einordnen?

Ich denke, dass die EU-Außengrenzen seit zwei Jahrzehnten immer gewalttätiger werden, und das sagen nicht nur Aktivist*innen. Sogar das UNHCR warnt vor der Zunahme von Gewalt gegen Migrant*innen. Abschiebungen, Screenings und die jetzt verschärfte europäische Asyl- und Migrationspolitik werden das noch schlimmer machen. Dabei erleben Migrant*innen nicht nur an den Außengrenzen Gewalt, sondern auch in den Haftzentren und Lagern Europas. Diese Orte verbleiben oft unsichtbar, genauso wie Racial Profiling und Polizeigewalt gegen Migrant*innen und rassifizierte Personen. In Spanien haben wir viele Todesfälle in den Abschiebegefängnissen. Es ist sehr schwierig, die Misshandlung und die Folter in diesen Einrichtungen anzuprangern und sie münden häufig in Straffreiheit für die Täter*innen. Wenn die Betroffenen Beschwerde einreichen, werden sie einfach abgeschoben. Die Gewalt an den EU-Außengrenzen wird selten mit der Gewalt innerhalb Europas in Verbindung gebracht, beides hängt aber unweigerlich zusammen.

Luca Apfelbaum und Anni Eble arbeiten im iz3w. Übersetzung aus dem Englischen: Luca Apfelbaum.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 404 Heft bestellen
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