Frau sitzt auf den Stufen der Gedenkstätte in Yerewan und gedenkt der Opfer des Genozids an den Armenier*innen
Ort der Trauer - Genozid Gedenkstätte in Yerewan, Armenien | Foto: B. Londergan

Die »Geschichts­lücke«

Die Türkei weigert sich, den Genozid an den ArmenierInnen anzuerkennen

Im Schatten des Ersten Weltkrieges geschah einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts: Bei Massakern und Todesmärschen wurden verschiedenen Schätzungen zufolge 1 bis 1,5 Millionen Armenier*innen ermordet. Verübt wurden diese Verbrechen unter Verantwortung einer Regierung des Osmanischen Reiches, die aus der nationalistischen Bewegung der Jungtürken hervorgegangen war. 2015 jährt sich der Beginn des Genozids zum hundertsten Mal. Obwohl bereits seinerzeit fast alle Fakten über den Völkermord international bekannt waren, warten Armenier*innen seit hundert Jahren vergebens auf die Anerkennung ihres Leids. Die Regierung der Türkei weigert sich bis heute, Verantwortung für die Verbrechen zu übernehmen. Die Geschichte der türkischen Leugnungspolitik ist Gegenstand des hier präsentierten Beitrags.*

Gedenken an den Völker­mord zu verhindern

Am 24. April 2014 sprach der damalige Ministerpräsident und heutige Staatspräsident R. Tayyip Erdoğan den »armenischen Mitbürgern« in der Türkei sowie »allen Armeniern weltweit« in einer Erklärung zum Gedenktag an den Völkermord sein Mitgefühl aus. Es sei »eine menschliche Pflicht, die Erinnerung an das Leid, das die Armenier zu jener Zeit durchlebt haben, zu verstehen und es mit ihnen zu teilen.« Angesichts der Tatsache, dass die Leugnung des Genozids seit Gründung der Republik Türkei Bestandteil der offiziellen Ideologie ist und noch vor wenigen Jahren Autor*innen, die den Völkermord öffentlich thematisierten, verfolgt wurden, könnten Erdoğans Worte als Ausdruck einer veränderten Haltung interpretiert werden.

Die Forderung nach Anerkennung des Genozids gilt als weiterer Beweis des »Verrats«

Bei näherem Hinsehen ist jedoch Skepsis angebracht: Indem Erdoğan das Leid der Armenier*innen als Teil einer Gewalt subsumiert, die in der Endphase des Osmanischen Reiches von allen Gruppen »gleich welcher Religion oder ethnischen Herkunft« erfahren worden sei, wiederholt er im Grunde die bekannte türkische Argumentation, die den an den Armenier*innen verübten Verbrechen die türkisch-osmanischen Kriegsverluste gegenüberstellt. Im weiteren Text der Erklärung warnt Erdoğan sogar erneut vor einer Benennung als Genozid.

Die Skepsis wird dadurch verstärkt, dass türkische Diplomat*innen weiterhin in verschiedenen Ländern aktiv werden, um ein Gedenken an den Völkermord zu verhindern. Erinnert sei an den massiven türkischen Druck gegen die Errichtung eines Mahnmals in Genf oder die Interventionen des türkischen Generalkonsulats anlässlich der Aufführung einer Bühnenfassung von Edgar Hilsenraths »Märchen vom letzten Gedanken« im März 2014 in Konstanz. Dabei thematisiert der Prolog von Hilsenraths »Märchen«, dass die Leugnungspolitik – die »Geschichtslücke« – nicht nur die armenischen Opfer und ihre Nachfahren, sondern auch die türkische Gesellschaft massiv traumatisiert. Von außen betrachtet erscheint diese Haltung hundert Jahre nach den Geschehnissen absurd und verknöchert. Erklärbar ist sie nur vor dem Hintergrund der Geschichte der Türkei.

Auslöschung des armenischen Volkes

Vor hundert Jahren, während der Geschehnisse selbst, war die internationale Öffentlichkeit recht genau über den laufenden Völkermord informiert. Allein im Jahr 1915 berichtete die New York Times in 145 Artikeln über die Deportationen und Massaker. Obwohl der Begriff „Völkermord“ (Genozid) damals im Völkerrecht noch nicht existierte, formulierten Depeschen deutscher und amerikanischer Diplomat*innen sowie Berichte von Jurist*innen und Politiker*innen zahlreicher Länder eindeutig, was im Osmanischen Reich vor sich ging: die Auslöschung des armenischen Volkes. Bereits Ende Mai 1915 protestierten die Regierungen der Entente in einer gemeinsamen Note an die osmanische Regierung gegen die an den Armenier*innen verübten »Crimes against Humanity« und kündigten eine Bestrafung der Schuldigen an.

Nach Kriegsende richtete die osmanische Regierung 1919 – auch unter dem Druck der Alliierten – Sondergerichtshöfe ein, die etwa 70 Strafverfahren gegen Politiker und an den Massakern Beteiligte einleiteten. Mehrere Angeklagte erklärten explizit, dass sie Befehle zur »Auslöschung der Armenier« erhalten hatten. Die Gerichte verhängten zwanzig Todesurteile, von denen drei vollstreckt wurden. Ein Gesetz von 1920 sah die Rückgabe des geraubten armenischen Besitzes an die Eigentümer*innen vor.

Die Armenier*innen Istanbuls führten Gedenkveranstaltungen für die Deportierten durch. Im April 1919 errichteten sie in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul ein Mahnmal für die armenischen Opfer. Der armenische Autor Teotig (eigentlich Teotoros Lapçinciyan), selbst Überlebender der Deportationen, rekonstruierte in dem Gedenkbuch »HUŞARTSAN« die Lebensdaten und Todesumstände von mehreren Hundert der deportierten armenischen Intellektuellen. Armenische und internationale Hilfsorganisationen kümmerten sich um die ungezählten armenischen Waisen, die ihre Eltern während der Deportationen verloren hatten.

Die Fakten und Folgen des Völkermords waren offenkundig. Im osmanischen Parlament und in verschiedenen Zeitungen verurteilten auch mehrere muslimisch-türkische Politiker*innen die Verbrechen in klaren Worten.

Schaffen einer Geschichtslücke

Doch diese Entwicklung war von kurzer Dauer. Ab 1919 organisierte sich in Anatolien eine türkisch-nationalistische Bewegung, deren Führung bald Mustafa Kemal (Atatürk) übernahm. Obwohl es die jungtürkische Regierung gewesen war, die das Reich mit expansionistischen Zielen in den Krieg geführt hatte (und türkisch-muslimische Truppen noch im Sommer 1918 bis nach Baku vorgestoßen waren), sah die Bewegung die Türken bzw. Muslime als »Opfer« des Krieges und definierte sich als »Verteidigungsbewegung«.

Tatsächlich hatte auch das Osmanische Reich im Krieg enorme Opfer zu verzeichnen und sämtliche arabischen Gebiete an England und Frankreich verloren. Der von den Siegermächten diktierte Friedensvertrag von Sèvres verknüpfte auf fatale Weise eine Kompensation der Armenier*innen durch die vorgesehene Gründung eines armenischen Staates (und eine mögliche kurdische Autonomie) mit den Begehrlichkeiten der europäischen Mächte, die auch weite Teile Anatoliens als »Einflussgebiete« untereinander aufgeteilt hatten.

Daher gilt der folgende Krieg von 1919 bis 1922 in der türkischen Geschichtsschreibung als »antiimperialistischer« nationaler Befreiungskampf. De facto richtete er sich jedoch in erster Linie gegen Armenier*innen und Griech*innen. Auslöser für den bewaffneten Kampf waren zum einen der Vormarsch griechischer Truppen in Westanatolien (der Waffenstillstandsvertrag hatte ihnen lediglich die Besetzung eines Gebiets um Izmir zugestanden), die Rückkehr überlebender Armenier*innen als Teil bzw. im Schutz französischer Besatzungstruppen nach Kilikien und die vorgesehene Gründung eines armenischen Staates im Nordosten Anatoliens. Sowohl in Kilikien als auch in den östlichen Provinzen kam es erneut zu Massakern an armenischen Zivilist*innen, die als Fortsetzung des Völkermords angesehen werden können.

Viele Muslime, die sich am Eigentum der vertriebenen und ermordeten Armenier*innen und Griech*innen bereichert hatten, unterstützten die Nationalbewegung aus konkreten, materiellen Beweggründen und aus Angst vor einer möglichen Rückkehr der VorbesitzerInnen. Mit anderen Worten: Der »Befreiungskrieg« diente der Zementierung der Vertreibung und der Verteidigung der »Gewinne« des Völkermords.

Zu den ersten Maßnahmen der sich in Ankara konstituierenden Nationalregierung gehörten das Verbot der Rückkehr während des Völkermords geflohener Armenier*innen, die Aufhebung des Gesetzes zur Rückgabe armenischen Eigentums und eine allgemeine Amnestie auch der verurteilten Kriegsverbrecher. Türkisch-muslimische Politiker, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die Verbrechen öffentlich kritisiert und eine Bestrafung der Täter gefordert hatten, wurden als Verräter angegriffen, verfolgt und einige gelyncht. In der internationalen Konjunktur der 1920er Jahre ließen die Großmächte die Ansprüche der Armenier*innen und die Frage einer Bestrafung der für den Genozid Verantwortlichen fallen.

 

Nachträg­licher Sieg der Ittiha­disten

Die Gründung der Republik Türkei im Oktober 1923 kann so als später Sieg der jungtürkischen Ittihad ve Terakki angesehen werden. Der Vertrag von Lausanne vom Juli 1923 segnete sowohl die Ergebnisse des Völkermords als auch die Vertreibung der anatolischen GriechInnen nachträglich ab. Die bis 1950 alleinige Regierungspartei CHP ist im Kern als Nachfolgeorganisation aus der Ittihad ve Terakki hervorgegangen. Zahlreiche für den Völkermord Verantwortliche übernahmen Regierungsämter und zentrale Posten in der CHP.

Überall wurden Straßen, Stadtteile und Schulen nach den Mördern benannt.

Die Tatsache, dass der Gründungskongress der türkischen Nationalbewegung im Juli 1919 in Erzurum im armenischen Sanasaryan-Lyzeum stattfand, das nach der Deportation der ArmenierInnen beschlagnahmt worden war, und dass sich der Präsidentenpalast der Türkei bis vor kurzem in Çankaya in einer armenischen Villa befand, dessen Besitzer vertrieben und enteignet wurden, hat mehr als symbolischen Charakter. Die Republik Türkei gründete sich auf die mittels Vertreibung und Auslöschung der Christ*innen erfolgte Türkisierung Anatoliens und führte diese Politik fort: »Dieses Land gehört euch, den Türken. Dieses Vaterland war in der Geschichte türkisch, es ist türkisch und wird immer türkisch bleiben. Es ist nun endlich wieder in die Hände seiner eigentlichen Besitzer zurückgekehrt, Armenier oder andere haben hier keinerlei Rechte«, erklärte Mustafa Kemal 1923 in Adana.

Die überlebenden Armenier*innen waren in der Türkei vielen Beschränkungen unterworfen: Sie wurden aus der Wirtschaft und zahlreichen Berufen verdrängt, elementarer Rechte wie der Freizügigkeit, Meinungs- und Organisationsfreiheit beraubt, viele ihrer Kulturbauten, Friedhöfe und Schulen wurden zerstört. Nach der Auslöschung der armenischen Bevölkerung sollte auch ihre Geschichte ausradiert werden, die Namen von Dörfern und Städten wurden türkisiert. Überall wurden Straßen, Stadtteile und Schulen nach den Mördern benannt. Internationale Schriften, die den Völkermord oder nur die Geschichte Armeniens erwähnten, wurden verboten, ihre Einfuhr verhindert. Bezüglich Franz Werfels Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, in dem der Völkermord und der armenische Widerstand thematisiert werden, begnügte man sich nicht mit einem Einfuhrverbot: Über Jahrzehnte führte die türkische Diplomatie international einen verbissenen Kampf, um eine Verfilmung des Buches zu verhindern.

Den Armenier*innen in der Türkei war es nicht nur verwehrt, öffentlich ihrer Opfer zu gedenken. Der Preis ihres Verbleibens in der Türkei war das Bekenntnis zur offiziellen Leugnung und damit der Verleugnung ihres eigenen Schicksals. Eine makabere Zeremonie im Hof der armenischen Kirche von Pangalti im Mai 1935 führt diese Situation bildhaft vor Augen: In Imitation der Bücherverbrennungen der Nazis verbrannten ArmenierInnen in Istanbul das Buch »Die vierzig Tage des Musa Dagh« und ein Foto seines Autors.

International führte die sich wandelnde politische Konjunktur und die Anerkennung, die der »moderne« Staatsführer Atatürk bei den Großmächten erfuhr, bald dazu, dass der Genozid in Vergessenheit geriet. »Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?«, äußerte Hitler am 22. August 1939 gegenüber der Heeresleitung, um sie auf die geplante Zerstörung Polens einzustimmen.

An der Lage der Armenier*innen in der Türkei änderte sich auch nach der Einführung des Mehrpartiensystems 1946 nichts: Erster Vorsitzender der DP (Demokratische Partei) wurde Celal Bayar, der seine politische Karriere als Organisator der Ittihad ve Terakki im Ägäisraum begonnen hatte. Unter seiner Regie waren 1914 Griech*innen durch Terrorakte von dort vertrieben worden. Während seiner Präsidentschaft fand am 6. und 7. September 1955 ein Pogrom gegen Griech*innen und andere nichtmuslimische Bewohner*innen statt.

1965, im Zuge der nach dem Tode Stalins erfolgten Lockerungen in der Sowjetunion, führten Armenier*innen am 24. April in Jerewan, der Hauptstadt der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik, erstmalig eine große Gedenkveranstaltung durch, an der sich  zehntausende Menschen beteiligten. Eine Gedenkstätte wurde eingeweiht.

Zum internationalen Thema wurde der armenische Völkermord erst wieder während der 1970er und 1980er Jahre. Mitte der Siebzigerjahre brachten Attentate militanter Armenier gegen türkische Diplomaten in verschiedenen Städten der Welt das Thema erneut in die Schlagzeilen. In den Achtzigerjahren entwickelte sich schließlich, angeregt durch die Holocaustforschung, vor allem in den USA und in Frankreich eine wissenschaftliche Forschung zum Armeniergenozid.

Kampagne zur Leug­nung beginnt

Auf die beginnende internationale Thematisierung des Genozids reagierte die Türkei mit einer Propagandakampagne. Diplomaten und Beamte des Außenministeriums wie Kamuran Gürün und Bilal Șimșir, Angehörige des Militärs sowie auch Wissenschaftler verfassten ab Mitte der 1980er Jahre Publikationen, die der Widerlegung der Geschichte des Völkermords dienen sollen. Im Kern wiederholen die meisten dieser Werke die bereits von den Jungtürken während des Krieges oder in den Jahren 1919 bis 23 aufgestellten Thesen: Die ArmenierInnen hätten als Handlanger der Imperialisten agiert, weil sie sich zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach Schutz vor Übergriffen an die europäischen Großmächte gewandt hatten; sie hätten sich als Verräter betätigt und seien zu den Russen übergelaufen; die Deportationen seien kriegsnotwendig gewesen.

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Die Zahlen der armenischen Opfer wurden bestritten und den türkisch-muslimischen Kriegsverlusten, insbesondere den muslimischen Opfern von Vertreibungen vom Balkan und aus dem Kaukasus, gegenübergestellt. Einige dieser Publikationen versteigen sich zu der Behauptung, in Wahrheit seien die Türk*innen bzw. Muslime Opfer eines von ArmenierInnen geplanten Genozids gewesen.

Die Leugnung beschränkt sich nicht auf ein Abstreiten oder eine Relativierung der Fakten und die Weigerung, sich mit der eigenen Geschichte und Verantwortung auseinanderzusetzen. Armenier*innen werden erneut bezichtigt, Feinde und Verräter*innen zu sein, wobei nun auch die Forderung der Anerkennung des Völkermords (vor allem seitens außerhalb der Türkei lebender ArmenierInnen) als weiterer Beweis ihres »Verrats« gewertet wird. Dies entspricht der Täter-Opfer Umkehrung, wie sie Adorno und Horkheimer als Mechanismus der Schuldabwehr für die deutsche Gesellschaft nach Auschwitz beschrieben haben.

Corry Guttstadt ist Turkologin und Historikerin. Arbeitsschwerpunkte sind Minderheitenpolitik der Türkei, Antisemitismus und Nationalismus. Derzeit arbeitet sie mit Förderung der Beate Klarsfeld Foundation und Fellowships des USHMM, der Fondation pour la Mémoire de la Shoah und von Yad Vashem an der Erstellung einer Quellenedition zur Politik der Türkei während des Holocaust. Ragıp Zarakolu ist Autor, Verleger und Gründungsmitglied des Menschenrechtsvereins IHD. Er betreibt den Verlag Belge, in dem er zahlreiche Werke zum Armeniergenozid und zu weiteren in der Türkei lange tabuisierten Themen verlegt. 2007 erhielt er den Preis der International Association of Genocide Scholars.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 346 Heft bestellen
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