Portraitfoto vom Autor Deniz Utlu
Deniz Utlu | Foto: Heike Steinweg, Suhrkamp Verlag

»Ein Meer an Erinnerungen«

Interview mit Deniz Utlu über seinen Roman »Vaters Meer«

Deniz Utlus preisgekrönter dritter Roman erzählt eine Vater-Sohn-Geschichte. Die iz3w sprach mit ihm über das Coming-of-Age zwischen Hannover und Südanatolien, über Erinnern und Erzählen und warum Misstrauen manchmal gut ist.

Das Interview führte Josephine Haq Khan

19.08.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 404

iz3w: Ein zentrales Thema in »Vaters Meer« ist das Erinnern und Erzählen. Was macht das Erzählen mit dem Erinnern und das Erinnern mit dem Erzählen?

Deniz Utlu: Vaters Meer ist ein Roman des Erinnerns, ein Gedächtnisroman. Und es ist ein Roman, in dem es ums Erzählen selbst geht, weil der Protagonist Yunus versucht, sich die Geschichte des Vaters zu erzählen und zwar in der Art und Weise, wie sein Vater sie erzählt hat.

Ich habe bei der Arbeit an diesem Roman festgestellt, dass es einen Zusammenhang zwischen Erzählen und Erinnern gibt: Ohne Erinnerung kann nicht erzählt werden, auch wenn die Erzählung fiktiv ist. Irgendetwas Erlebtes muss es geben, um erzählen zu können und dann ist es egal, ob es fiktiv ist oder nicht. Das Erinnern funktioniert aber auch nicht ohne das Erzählen: Wenn nicht erzählt wird, geraten die Dinge in Vergessenheit.

Was bedeutet der Vater und die Suche nach ihm für Yunus?

Yunus glaubt, dass der Vater in seinem Leben nicht präsent gewesen ist und dass deshalb der Verlust auch nicht so schlimm ist. Dann versucht er, sich an den Vater zu erinnern und stößt auf ein Meer an Erinnerungen. Er stellt also fest, dass das Narrativ des abwesenden Vaters nicht stimmen kann, sonst hätte er ja nicht so viele Erinnerungen. Das führt nun dazu, dass er so viele Erinnerungen wie möglich finden will.

In erster Linie geht es in »Vaters Meer« um eine Vater-Sohn-Beziehung. Aber Yunus stößt auch immer wieder auf die Mutter: »In dieser Ewigkeit im Weltall suchte ich meinen Vater. Ich traf meine Mutter.« Wofür steht sie?

Weil der Vater schon so lange nicht mehr da ist – zehn Jahre tot, zehn Jahre im Locked-In-Syndrom – ist er eine Erinnerung und Erzählung, während die Mutter das Gegenüber ist. Das versteht Yunus erst auf der Suche nach den Erinnerungen, also erst im Lauf des Romans. Die Veränderung, die Yunus durch das Erinnern und das Erzählen durchlebt, zeigt sich an der Beziehung zur Mutter. Deshalb ist die Mutter genauso wichtig für den Roman wie der Vater. Sie ist die Gegenwart.

Im Buch sind mehrere Orte wichtige Schauplätze. Wofür stehen die Orte Mardin, Kızkalesi und Hannover?

Orte sind für mich mehr als nur eine Bühne oder ein Raum, in dem sich die Geschichte entfalten kann, sondern auch selbst wie Figuren: Sie haben eine Geschichte, sie verändern sich. Menschen haben eine Beziehung zu den Orten und Orte haben vielleicht sogar eine Beziehung zu den Menschen.

Dass ich Mardin und Hannover ausgewählt habe, ist einem Zufall geschuldet: Mein Vater kommt aus Mardin, ich selbst bin in Hannover aufgewachsen. Aber das begründet noch keine literarische Arbeit. Mein weiteres Interesse war, was diese beiden Städte mit Bezug auf Erinnerung und Gedächtnis zu erzählen haben.

Mardin ist etwa 5.000 Jahre alt. Die historischen Häuser in der Altstadt sind erhalten. Das heißt, wenn man vor hundert Jahren dorthin gegangen ist, ist man, was die Gebäude angeht, in derselben Stadt gewesen wie jetzt vor drei Wochen. Es ist viel Geschichtsträchtiges passiert, aber die Gebäude sind gleich geblieben. Natürlich wurde architektonisch eingegriffen, aber man erkennt das nicht sofort.

»Es ist absurd, Vertrauen von einem Menschen zu verlangen, der rassistischer Gewalt ausgesetzt ist«

In Hannover ist genau das Gegenteil der Fall. Hannover ist keine 800 Jahre alt. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg zu neunzig Prozent zerstört. Viele der Häuser wurden wiederaufgebaut, oft wurden aber auch diese 1950er-Jahre-Nachkriegsbauten errichtet, mit dem Schutt der Gebäude, die zerbombt wurden. Das heißt, wir haben das Vergangene versteckt und die Zerstörung kaschiert: Sie ist entweder unsichtbar in den Gebäuden drin. Oder sie ist dadurch unsichtbar, dass das Gebäude so aufgebaut wurde, als wäre es nie zerstört worden. Das lässt der Erinnerung nicht viel Raum. Mardin und Hannover zeigen zwei völlig unterschiedliche Arten, mit Erinnerung und Gedächtnis umzugehen.

Kızkalesi ist ein Ort am Mittelmeer, da macht Yunus‘ Familie im Sommer Urlaub. In den 1990er-Jahren haben das viele türkeistämmige Familien gemacht. Kızkalesi ist auch interessant, weil es eine eigene Mythologie hat, auf die der Roman nur peripher eingeht. Die Burg, zu der Yunus und sein Vater mit dem Boot fahren, ist sehr alt. Damals wissen sie noch nicht, dass da Leichen verscharrt sind. Auch da ist die Geschichte unsichtbar.

Wo wir schon bei den Orten sind: Was macht Migration mit Identität?

Migration ist ein einschneidendes Erlebnis für die Person, die sie erfahren hat und auch für die nachfolgende Generation. Gleichzeitig ist Migration etwas, wozu die Mehrheit der Menschen einen Bezug hat. Die Menschheitsgeschichte lässt sich ohne Migration nicht denken.

Das hat zunächst nicht wirklich etwas mit Identität, also der Frage »Wer bin ich?«, zu tun. Die Suche nach sich selbst ist universell und hat nichts mit kultureller Zugehörigkeit zu tun. Ich glaube schon, dass Menschen in Deutschland unterschiedliche Erfahrungen machen: Menschen, die von Rassismus oder von Behinderung betroffen sind, machen andere Erfahrungen als solche, die es nicht sind. Das, was Teil der Identität wird, ist jedoch nicht die Herkunft, sondern die Art, wie ich mich damit auseinandersetze. Sartre sagte: Ich werde, was ich bin, durch die radikale Verneinung dessen, was aus mir gemacht wurde.

Die Suche nach mir selbst sieht natürlich anders aus, je nachdem, was für Ausgrenzungen ich ausgeliefert bin. Ich habe durch verschiedene Sprachen, die ich spreche, eventuell Zugang zu nicht-kanonischen Auseinandersetzungen damit. In Vaters Meer spielt zum Beispiel neben der europäischen Literatur auch muslimische Mystik eine Rolle.

Welche Erfahrungen sind mit dem Coming of Age als Kind von Migrant*innen im Deutschland der 1990er-Jahre verbunden – für Yunus und dich?

Ich denke, dass man aufwachsend mit einer marginalisierten Positionierung in der Gesellschaft sehr früh lernt, dass Vertrauen nicht so hilfreich ist. Du lernst schon früh – im gesamten Bildungssystem, zum Beispiel bei der Notenvergabe und Strafaufgaben – dass die Welt ein Ort voller Gefahren ist. Das kannst du als Kind nicht artikulieren, aber du merkst, dass irgendwas nicht stimmt. Warum fliege ich raus und nicht der Junge, mit dem ich mich gekloppt habe, oder wir beide? Dann brennt dieses Haus in Solingen und eine ganze türkische Familie stirbt. Dann denkst du: Hätte das auch meine Familie sein können? Man fragt sich diese Sachen nicht so explizit – zumindest erinnere ich mich nicht so daran – aber an das Gefühl erinnere ich mich schon.

In so einer Position weißt du schon sehr früh, dass du vulnerabel bist. Das ist nicht nur ein Nachteil. Alle Menschen sind vulnerabel, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Positionierung. Aber manche Menschen sind so privilegiert, dass sie dazu neigen, das zu vergessen.

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Du schreibst nicht nur Romane, sondern auch politische Essays. Eines aus der Anthologie »Eure Heimat ist unser Albtraum« trägt den Titel »Vertrauen«. Wie ist es um dein Vertrauen in den Staat und unsere Gesellschaft bestellt?

Vertrauen ist wichtig, um miteinander leben zu können. Ich finde aber, dass Misstrauen auch ein erstrebenswertes Gut sein kann, je nachdem, unter welchen Verhältnissen wir leben. Es ist absurd, Vertrauen von einem Menschen zu verlangen, der rassistischer Gewalt ausgesetzt ist.

Der Essay ist in der Zeit nach den NSU-Morden entstanden und bezieht sich auf den Fall Murat Kurnaz*. Da haben wir das Beispiel, dass ein ganzer Staatsapparat daraufhin gearbeitet hat, dass dieser Junge nicht zurück nach Deutschland kommen kann. Wenn mir jetzt gesagt wird, ich soll vertrauen, bedeutet das, ich soll darauf vertrauen, dass der Staat das nicht nochmal machen würde? Soll ich davon ausgehen, die zuständigen Personen haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und das war trotzdem das Ergebnis? Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der es sehr schwierig ist, den Behörden zu vertrauen. Es ist wichtig, wachsam zu sein, entsprechende Analysefähigkeiten zu entwickeln und Vertrauen dort aufzubauen, wo es möglich ist, also in zwischenmenschlichen Beziehungen und Netzwerken und durch das Etablieren von Erzählen und Zuhören.

Da sind wir auch wieder beim Roman: Erzählen und Zuhören sind zwei für ein ehrliches Vertrauen elementare Aspekte, die in unserer Gesellschaft rar geworden sind. Die Literatur und das Sprechen über diese Gesellschaft und über eigene Erfahrungen kann ein guter Ort dafür sein, um zu schauen, wo wir das wohlwollende und aufmerksame Erzählen und Zuhören hinbekommen. Von dort aus ist Vertrauen vielleicht möglich.

Josephine Haq Khan hat einen Bachelor in Politikwissenschaften und Soziologie.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 404 Heft bestellen
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