Buchcover vo Deniz Utlu: Vaters Meer

Mein Vater und sein Geist

Rezensiert von Winfried Rust

20.06.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 392

Im Roman Vaters Meer wächst ein Teenager namens Yunus in Hannover auf. Dann plötzlich, ein Schicksalsschlag: Sein Vater, Zeki, fällt nach zwei Schlaganfällen in ein Koma. Die Folge davon ist ein jahrelanges Locked-in-Syndrom. Dabei ist Yunus in seinen Entwicklungsjahren sowieso überfordert. Überall fühlt er sich mehr oder weniger fremd. Die Eltern sind aus dem südanatolischen Mardin in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Deutschland ausgewandert. Der dreizehnjährige Yunus war hingegen schon immer da und schlägt sich mit den ‚normalen‘ Heranwachsendenproblemen herum. In der Schule wird er von Gleichaltrigen verprügelt. Seine Familie zeigt die Gewalttäter an, doch das bringt ein neues Problem mit sich: Fortan lauert die ganze Clique Yunus auf. Die Mutter macht Yunus Vorwürfe, er hätte provoziert. Yunus selbst ist sensibel und musisch interessiert – und so tut er sich in seinem Umfeld schwer.

Überall fühlt er sich mehr oder weniger fremd

Doch er boxt sich durch, weitet seinen Horizont, entdeckt Freundschaft und Liebe, Musik und Literatur. Das ferne Südanatolien rückt mit Reisen näher. Der einsame Teenager lernt dort seine Verwandtschaft kennen, in einer Mischung aus Nähe und Zwangsgemeinschaft. Die Stadt Mardin, Herkunftsort des Vaters und einmal als Meer aus Sand bezeichnet, wird ihm eine Inspiration, die in Hannover unerreichbar war.

Er macht sich auf die Suche nach dem verlorenen Vater, er recherchiert in Dokumenten und vor allem in seiner Erinnerung. Yunus erinnert sich, wie sein Vater sich erinnerte, wie dessen Vater in der frühen türkischen Republik einen willkürlichen Nachnamen bekam: »Unser Name ist bedeutungslos, sagte Vater«. Yunus beschreibt die Szene so: »In meiner Erinnerung gingen wir spazieren.« Der Autor Utlu erforscht diese Memoiren weiter. Er traut sich selbst nicht über den Weg, was davon echt, konstruiert oder phantasiert ist und schreibt: »In diesem Gespräch, das womöglich niemals stattgefunden hat, sagte Vater …«

Mit den Erinnerungsversuchen bauen sich eine Kindheitsgeschichte in Hannover, eine Migrationsgeschichte der Mutter und des Vaters, Beziehungsgeschichten sowie eine deutsche und eine türkische Alltagsgeschichte seit den 1960er-Jahren zusammen. Wir erfahren von der Migrationsgeschichte des Vaters übers Meer nach Hamburg, wie auch vom Coming-of-Age des Erzählers. Am Ende sitzt Yunus am Elbhafen und erinnert sich: »Ich habe es mit mehreren Vätern zu tun: dem verstorbenen, dem imaginierten und seinem Geist.«

Deniz Utlu: Vaters Meer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 384 Seiten, 25 Euro.

Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 392 Heft bestellen
Unsere Inhalte sind werbefrei!

Wir machen seit Jahrzehnten unabhängigen Journalismus, kollektiv und kritisch. Unsere Autor*innen schreiben ohne Honorar. Hauptamtliche Redaktion, Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit halten den Laden am Laufen.

iz3w unterstützen