Wie wollen wir leben?

Und wie sähe eine bessere Welt aus? Diese Fragen haben Konjunktur. Die Utopie ist zurück, nicht nur in der linken Bubble. Von Deutschlandfunk bis FAZ wird erzählt: Der Mensch braucht Utopien. Nun ja, jedenfalls scheint das Wort für Klicks zu sorgen. Zudem führen die multiplen Krisen und Katastrophen der vergangenen Jahre vielen vor Augen, dass es einen radikalen Wandel braucht. Linke Bewegungen springen auf diese Einsicht auf. Von Fridays for Future über Black Lives Matter bis Deutsche Wohnen & Co. Enteignen: Radikale Ideen können aus den linken Bewegungen in den Mainstream-Diskurs vordringen. Ob Degrowth-Ansätze, eine Welt ohne Gefängnisse, Debatten über Gemeingüter, das Vergesellschaften von Immobilienkonzernen – inzwischen sprechen viele über Zukunftsideen, die einst nur ein paar Aktivist*innen und Intellektuelle umtrieben.

Auch die Linke räumt dem utopischen Denken wieder mehr Raum ein

Auch die Linke räumt dem utopischen Denken wieder mehr Raum ein. Linke Nerds vertiefen sich vermehrt in die Details, die eine befreite Gesellschaft ausmachen könnten: Wie sieht ein vergesellschaftetes Gesundheitssystem aus? Wie funktioniert kybernetisches Planwirtschaften? Wie geht die demokratische Arbeitszeitrechnung? Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der Care und Beziehungen im Zentrum stehen? Wie leben wir, ohne den Planeten zu schädigen?

Und nicht zuletzt ist sie auch tröstlich, die Utopie. Die ständigen Horrornachrichten von Krieg, klimabedingten Katastrophen und dem Aufstieg der Rechten schlagen aufs Gemüt, säen Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle, verursachen existenzielle Ängste. Was hilft da besser als ein wenig Eskapismus! Auch dieses Bedürfnis erfüllt das Genre Utopie: Es lässt uns flüchten in eine andere Welt, während die reale sich durch den Klimawandel schlägt.

Dieses Dossier ist mit Bildern aus einer utopischen Graphic Novel illustriert. Die zwei Protagonist*innen der Kurzgeschichte »Swandive« aus der Graphic Novel »Apsara Engine« gehen dabei auf eine Gedankenreise. Die Kartograf*innen Onima und Amrit lernen sich auf einer Konferenz kennen. Und bald zeichnen sie zusammen den Plan einer Stadt, in der sie gerne leben würden. Es soll eine Stadt sein, in der trans und queere Personen ohne Angst ihre Beziehungen leben können.

In der Kurzgeschichte »Swandive« bleibt die Utopie das Bild einer fernen Gesellschaft. Das ist oft das Problem utopischen Denkens. »Das ist doch utopisch!« Dieser Satz fällt, wenn eine Idee als bloßes Hirngespinst vorverurteilt wird. Es gibt auch stärker reflektierte Kritik am Utopismus: Utopisch zu denken, das muss man sich leisten können. Utopie kann ein eurozentrischer Begriff sein und er hat ein koloniales Erbe. In der Bezeichnung Amerikas als die »Neue Welt« scheint das auf. Außerhalb der Metropolregionen, in postkolonialen Gesellschaften und marginalisierten Communities, ist das Nachdenken über eine bessere Welt oft eines, das nicht nur die Zukunft, sondern Vergangenheit und Gegenwart einschließt (Decolonize Utopia!). Die Snotty Nose Rez Kids etwa erwecken in ihren Musikvideos Zukunftsvorstellungen von Native Americans zum Leben (Red Future) und afrobrasilianische Feminist*innen greifen auf das widerständige Erbe der Quilombo-Gesellschaften zurück (Die Macht zu verwirklichen). Das setzt im Alltag an, in der Praxis.

Landlose in Südafrika besetzen Land und gründen eine linke Kommune (»Befreites Gebiet«). In Rojava, Sehnsuchtsort westlicher Linker, wird eine demokratische Utopie gelebt, die jedoch ständiger Bedrohung ausgesetzt ist (Unter ständiger Bedrohung). Afrofuturismus und African Futurism wehren sich gegen koloniale Afrikabilder und setzen sich für ein besseres Leben für Menschen auf dem afrikanischen Kontinent und in der Diaspora ein (Science-Fiction und die Schwarze Spekulative Tradition).

Reale Lösungen für reale Probleme, auch das ist Teil utopischen Denkens. Wir, die wir uns sonst mit den Abgründen dieser Welt beschäftigen, gönnen uns und euch einen Ausflug in die Welt des … positiven Journalismus? Ob das geklappt hat? Lasst euch überraschen!

die redaktion, 19. August 2024

 

Das Dossier haben wir in Kooperation mit dem Freiburger Institut für Ethnologie erstellt: »Utopien und ihre gesellschaftliche Relevanz: Tandem-Praxis-Seminar mit dem Team des iz3w«. Hat Spaß gemacht & vielen Dank!  Die Bilder in diesem Dossier stammen aus der Graphic Novel »Apsara Engine« von Bishakh Som, abgedruckt mit der Erlaubnis des Verlags Feminist Press. Hier gibt es eine kleine Vorschau-Galerie »Es erschafft störende Charaktere«!

Dieses Dossier wurde bezuschusst von Umverteilen! Stiftung für eine, solidarische Welt

Ausschnitt aus der Graphic Novel  »Apsara Engine«, zeigt fünf Menschen und zwei Katzen auf futuristischem, bunten Boot, mit Instrumenten.
Ausschnitt aus dem Innenumschlag der Graphic Novel "Apsara Engine" von Bishakh Som (klicken für Vollbild) | (c) Feminist Press
Dieser Artikel ist erschienen im iz3w-Heft Nr. 404 Heft bestellen
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