Eine schlammige Straße in dem Geflüchtetencamp Moria

Staats­versagen als Ab­schreckung

Rezensiert von Jürgen Schübelin

08.08.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 404

In J.R.R.Tolkiens phantastischer Welt der Hobbits, Elben und Zwerge ist Moria eine lebensfeindliche, verlassene unterirdische Stadt, genannt »Dunkler Abgrund«. Seit 2015 steht Moria wie ein Fanal für das größte jemals in Europa geschaffene Flüchtlingslager. Die norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat zusammen mit der Journalistin Guro Kulset Merakerås eine Chronik dieses Lagers auf der griechischen Insel Lesbos erstellt. Ihren Fokus richtet sie auf die Kinder.

Inside Moria beruht vor allem auf Notizen aus Therapiegesprächen, Interviews, Social Media Posts und Tagebucheinträgen und umspannt die Zeit zwischen Sommer 2015 und Januar 2024. In diese Zeitspanne fiel die Flucht Hunderttausender vor dem Vernichtungskrieg des syrischen Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung, dem IS-Terror und dem Vormarsch der Taliban in Afghanistan. Daneben wird der neue EU-Migrations- und Asylpakt (GEAS) hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Menschen in den Lagern auf den Ägäisinseln betrachtet.

Einige Berichte sind kaum auszuhalten

Glatz Brubakk bettet ihre Erfahrungen als Helferin in den politischen und historischen Kontext dieser dramatischen Phase ein. Sie arbeitet heraus, wie es – entgegen aller Warnungen von Fachleuten – dazu kam, dass aus dem für die Aufnahme von 2.800 Menschen ausgestatteten Registrierungs- und Aufnahmezentrum in Moria ein Elendslager wurde, in dem bis zu dem verheerenden Feuer vom 8. September 2020 bis zu 20.000 Flüchtlinge zusammengepfercht waren.

Anhand von Einzelschicksalen zeigt sie, welcher Gewalt, Inkompetenz und Gleichgültigkeit der politisch Verantwortlichen, aber auch Hetze und Diskriminierung Kinder vor und nach ihrer Ankunft in Moria ausgesetzt waren. Dabei verdichtet sich – auch wenn die Autorinnen das so explizit nicht formulieren – der Eindruck, dass das Staatenversagen von Anfang an der Abschreckung diente.

Einige Berichte sind kaum auszuhalten. Etwa die Schilderung des Schicksals dreier Jungs, die erwachsene Flüchtlinge nachts wie überflüssigen Ballast aus dem von Schleusern völlig überladenen Schlauchboot ins Meer geworfen haben. Nur wie durch ein Wunder schafften sie es an den Strand von Lesbos. Glatz Brubakk hilft mit kurzen Einschüben zu psychologischen Grundbegriffen wie Traumata oder Resilienz, das Geschehene einzuordnen. Am dichtesten ist das Buch bei der Beschreibung von Momenten der direkten Arbeit mit Kindern. Dazu tragen auch die Bildstrecken bei. »Inside Moria« erinnert daran, dass alle Menschen das Recht haben, Asyl und Schutz vor Verfolgung und Gewalt zu beantragen. Gleichzeitig liest sich dieses Buch wie eine Warnung vor einem Europa, dessen Gesellschaften nicht mehr zur Solidarität fähig sind.

Katrin Glatz Brubakk, Guro Kulset Merakerås und Daniela Stilzebach: Inside Moria – Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit. Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024. 367 Seiten, 26 Euro.

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