Menschen, die ins Meer laufen zum baden

Flucht ohne Wiederkehr

Rezensiert von Winfried Rust

14.08.2024
Veröffentlicht im iz3w-Heft 404

»Mein Großvater fand ein altes, verlassenes Haus, eine französische Villa, Überbleibsel der Kolonialzeit, vor den Toren der Stadt.« Aber die Sache hat einen Haken: »Die Fenster hatten keine Scheiben mehr, und der Wind pfiff durch die hohen Räume mit seinen stuckverzierten Decken.« Neun Monate später, im Oktober 1951, wird dort bei Beirut der Vater der Erzählerin geboren. Die Villa ist nur eine kurze Station der autofiktionalen Fluchtgeschichte, die Joana Osman im Roman Wo die Geister tanzen über eine palästinensische Familie erzählt.

Die Story erstreckt sich von Jaffa (das heutige israelische Tel Aviv-Jaffa) über das libanesische Beirut in die türkische Mittelmeerstadt Mersin und weitere Länder über drei Generationen. Sie beginnt im Tel Aviv der Gegenwart. Die Berliner Ich-Erzählerin trifft dort ihre inzwischen türkische Cousine: »Zeynep hatte knallrot gefärbte Locken, die ihr bis zum Po reichen, und trägt ein grünes T-Shirt mit Peace-Zeichen, eine lilafarbene Stoffhose mit Fransen und Elefantenprint und dazu jede Menge Silberschmuck. Sie passt in diese Stadt wie ein Pfeil in die Mitte einer Dartscheibe. Die Jungs vom israelischen Inlandsgeheimdienst, die jeden Reisenden am Flughafen Ben Gurion kontrollieren, müssen Sie für die harmlose Irre gehalten haben, die sie ist.«

Mit der israelischen Staats­gründung kippt die Lage

Zeynep hat die Tagebücher ihres Vaters gefunden. Damit beginnt die Rekonstruktion der Familiengeschichte, die nach Jaffa im Jahr 1948 zurückführt. Die Großeltern führen dort ein Kino. Die einzelnen Charaktere werden sehr unterschiedlich, auch magisch oder humorvoll erzählt. Der Kinogehilfe sagt, Charlie Chaplin sei eigentlich Adolf Hitler, und »man werde die Juden schon noch kleinkriegen«. Die älteren Schwestern der Ehefrau Sabiha finden die Idee mit dem Kino »schwachsinnig«, Sabhia »schwärmt für Cary Grant«. Ehemann Ahmed und sein jüdischer Nachbar, der dem Holocaust in Polen entkommen ist, »nicken einander höflich zu«. Mit der israelischen Staatsgründung kippt die Lage in bewaffnete Auseinandersetzungen und den Palästinakrieg. Die Kinder werden geweckt mit den Worten: »Wach auf, Mahmoud, es wird geschossen.« Die Familie entschließt sich zur Flucht.

Im Libanon und in der Türkei macht die Familie die Erfahrung, dass sie nicht willkommen ist. Ihre Geschichte wird von Hunger, unnötigen Krankheiten und Todesfällen begleitet. Das Buch ist lesenswert, weil es im polarisierten Israel-Palästina-Konflikt etwas Aufklärung und Hoffnung schafft: Geradezu programmatisch werden die palästinensische Diversität und die Verbindungen zwischen israelischen und arabischen Menschen aufgezeigt. Emblematisch dafür steht ein Abriss der Familiengeschichte zu Beginn des Buchs: Sie seien »Kanaaniten allesamt (was immer das bedeuten mag) mit einigen Beduinen, ein paar Phöniziern, Arabern, Römern, Türken, und unter Garantie einer Handvoll Juden als Zugabe«. Und dazu schafft es die Autorin, eine palästinensische Fluchtgeschichte ohne die Abwertung der israelischen Seite zu schreiben.

Joana Osman: Wo die Geister tanzen. C. Bertelsmann Verlag, München 2023. 224 Seiten, 24 Euro.

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