Buchcover Amori die Inseln

Offene Ohren, geschlossene Grenzen

Rezensiert von Christin Meusel

16.01.2022
Veröffentlicht im iz3w-Heft 388

Der neue Roman von Johanna Lier Amori. Die Inseln ist keine Liebeserzählung. Wandert der Anfangsbuchstabe an das Ende des ersten Wortes, wird der Schauplatz des Buches erkennbar: Moria auf der Insel Lesbos. Die Autorin und Aktivistin nimmt uns mit in das größte Geflüchtetenlager Europas, in dem sich das kollektiv-europäische Versagen in menschenunwürdiger Behandlung zeigt.

Der Bericht ist als »dokumentarische Ortsbegehung« der Insel verfasst, stellt Begegnungen in den Vordergrund und hört vor allem zu. Die Protagonist*innen des Buches sind neun Frauen und Männer aus dem Lager, Aktivist*innen und Geflüchtete, die Lier zwischen 2018 und 2019 in Griechenland traf. Sie berichten ihr von Überlebenspraktiken innerhalb des dysfunktionalen Migrationssystems Europas, von lebensbedrohlichen Fluchtwegen und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben. Die alltäglichen Räume der Protagonist*innen macht Lier zu Kapitelübschriften und erzählt dann detailliert von der dauerhaften Enge, Gewalt und den katastrophalen Zuständen des Lagers. Moria ist ein Ort, an dem Geflüchtete gefangen gehalten werden, bis entschieden ist, ob sie überhaupt einen Antrag auf Asyl stellen dürfen. Es ziehen Monate oder Jahre ins Land, in denen zehntausende Menschen gezwungen sind auszuharren und Verhörsituationen sowie die Launen des Personals ertragen müssen.

Moria ist ein Ort, an dem Geflüchtete gefangen gehalten werden

Durch ihr alter Ego Henny L. erschafft Lier literarisch eine selbstreflexive, betrachtende Perspektive. Durch Henny L. lässt sie uns an intimen Momenten teilhaben, in denen sie westliche Glaubenssätze und Rassismen kritisiert. Hierbei zeigt sie auf, »was wir an den Grenzen tun und welchen Preis wir zu zahlen bereit sind, wenn es um unsere Privilegien und Identität geht.« Die Autorin eröffnet durch die Arbeit am Buch ein Forum des Austausches. Diesen Charakter verstärkt sie literarisch durch fragmentarisch und passgenaue Zitate von neunzehn Autor*innen, darunter James Baldwin, Achille Mbembe und Gayatri Spivak.

»Amori. Die Inseln« ist eine literarische Antwort auf eine kollektive Gewalterfahrung und fordert zurecht bitter notwendige Debatten ein: über die Grenz- und Lagerpraktiken Europas, das Recht auf Mobilität und die Kontrolle über das eigene Leben. Dabei steht stets die Frage im Zentrum: »Wem hören wir zu und welche Stimme hat für uns ein Gewicht?«

Johanna Lier: Amori. Die Inseln. Verlag die brotsuppe, Biel 2021. 328 Seiten, 27 Euro.

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