Der jüdisch-arabische Autor Mati Shemoleof
Mati Shemoelof ist Autor und Kurator und lebt in Berlin | Foto: Ronja Falkenbach, 2024

»Ich glaube weiterhin, dass ein friedliches Zusammen­leben möglich ist«

Interview mit dem arabisch-jüdischen Autor Mati Shemoelof

Der in Berlin lebende arabisch-jüdische Autor Mati Shemoelof besuchte Ende Juni seine Familie in Israel. Im Interview mit der iz3w spricht er über seine persönlichen und politischen Eindrücke, schwierige Gespräche und eine gemeinsame Zukunft für Palästina und Israel.

Das Interview führte Anni Eble

21.08.2024

iz3w: Können Sie uns zu ein paar Eindrücke von ihrem Besuch in Israel schildern?

Mati Shemoelof:* Es war mein erster Besuch nach dem 7. Oktober 2023. Man kann die Trauer und die Angst auf den Straßen spüren. Niemand weiß, was kommen wird. Es ist keine Hoffnung und kein Humor zu spüren. Irgendwie leben die Leute natürlich weiter, von Tag zu Tag. Ich habe mit meiner Familie Bar Mitzwa gefeiert und war auf zwei Bücherpartys. Es ist paradox, denn selbst wenn man feiert wie immer, spricht man zum Beispiel über die Geiseln in Gaza.

Ich habe allerdings versucht nicht zu viel mit Freund*innen und Familie über Politik und meine Meinung zum Gazakrieg zu reden. Auch, um nicht in Streit zu geraten. In der Diaspora lebende Jüdinnen*Juden haben oft andere Perspektiven als ihre Verwandten in Israel und oft können wir diese nicht teilen. Ich habe auch Freund*innen, die nicht mehr nach Israel fliegen, weil sie mit ihrer Verwandtschaft zerstritten sind.

In meiner Familie wird zwar nicht viel über Politik und den Krieg geredet, aber manchmal versuche ich es doch. Dann merke ich schnell, dass es da ein Trauma gibt. Es geht nicht darum was richtig oder falsch ist, sondern darum, dass sie Angst haben. Der Umgang mit dem Thema Krieg ist sehr schwer.

Welche Perspektiven auf den Krieg sind Ihnen begegnet?

In meiner Familie gibt es Menschen, die denken, dass Netanjahu Recht hat mit seinem ideologischen Handeln. Ein paar meiner Freund*innen sind zwar liberaler, aber auch sie fragen sich, ob sie überhaupt Empathie empfinden können. Sowohl mit den Palästinenser*innen oder den Bürger*innen in Südlibanon, die genauso flüchten mussten, wie die Israelis in Südisrael.

Ein guter Freund sagte zu mir: »Wir müssen die Hamas bis zum Ende bekämpfen und sie militärisch besiegen. Wenn wir das nicht machen, kann ich mich nicht sicher fühlen und muss Israel verlassen.«

Die Frage dabei ist, was sind die Kosten? Wie viele Leute müssen in Gaza noch sterben? Wie viele unschuldige Opfer gibt es, die nichts mit der Hamas zu tun haben? Es ist nicht einfach mit der Situation umzugehen, denn er sucht nach Sicherheit und ich suche nach Menschlichkeit. Das sind zwei Werte, die in dieser Situation und vor allem mit dieser Regierung nicht vereinbar zu sein scheinen.

Kommen die Kriegsbilder aus Gaza denn in der israelischen Gesellschaft an? Wie vermitteln die Medien diesen Krieg?

Die Bilder aus Gaza sind in Israel wenig zu sehen. Es gibt wenig Sorge über die Zerstörungen und das Leid der Menschen dort. Es geht viel um die eigene Sicherheit und um die Geiseln. Manchmal scheint es mir, dass sich alle Nachrichten nach dem 7. Oktober ähneln und die Zeit stehen geblieben ist. Ich denke, die israelischen Medien verraten ihre eigenen Werte und die Demokratie in Israel. Sie kommen ihrer eigentlichen Aufgabe, ein Gesamtbild abzubilden und die Leute umfassend zu informieren, nicht nach.

In den israelischen Medien gibt es keine Diskussion über die Zeit „nach“ dem Krieg. Es gibt keine Diskussion über die Notwendigkeit eines Friedensprozesses, um die Region zu stabilisieren und den Konflikt zu deeskalieren. Natürlich gibt es auch vereinzelt kritische Stimmen. Aber ich finde selten kritische Artikel, wie zum Beispiel im Guardian oder in der New York Times. Es gibt eine Kluft zwischen israelischen Medien und denen des demokratischen Auslands. Und deswegen denken und reden viele Leute nicht über die Katastrophe, die sich nur wenige Stunden von ihrem eigenen Haus entfernt in Gaza ereignet.

Wenn ich gegenüber meinen Freund*innen in Israel erwähne, wie viele Zehntausende Menschen schon in Gaza gestorben sind, hieß es, dass das eine Lüge der Hamas sei, dabei haben auch unabhängige Organisationen (u.a. WHO, UNO & UNRWA) die hohen Todeszahlen bestätigt. Diesen Kampf und die Debatte um Wahrheit und Desinformation, ist auch etwas, dass die rechte Bewegung in Israel für sich nutzt.

Ihre Familie lebt in Haifa, an der Grenze zum Libanon. Dort ist aktuell erwartete Eskalation mit der Hisbollah eine akute Bedrohung. Wie gehen die Menschen damit um?

Die Menschen in Haifa leben in ständiger Angst vor einem Krieg mit der Hisbollah. Die Militärpräsenz und die Warnung der westlichen Länder überdecken diese Angst. Es gibt zum Beispiel kein GPS-Signal in der Region, was das tägliche Leben erschwert und man hört konstant Militärflugzeuge über der Stadt kreisen.

Für die Kinder ist es ist besonders schwer. Sie leben seit acht Monaten mit der konstanten Gefahr von Krieg. Sie verhalten sich anders, zeigen ihre Emotionen anders. Sie wirken traumatisiert. In den israelischen Medien sagte Eyal Hulata (ehemals nationaler Sicherheitsberater), dass bei einem Krieg mit der Hisbollah bis zu 15.000 Menschen in Israel sterben könnten. Auch deshalb haben wir wirklich lange überlegt, ob wir überhaupt nach Israel fliegen sollen.

Die Bedrohung durch die Hisbollah hat mit dem Gazakrieg eine neue Stufe erreicht. Beeinflusst das nicht die Perspektive dieser Region auf den Gazakrieg?

Alle wissen, dass es eine Verbindung zwischen dem Gazakrieg und der Eskalation mit der Hisbollah gibt. Aber die Perspektive innerhalb Israels ist anders, als die, die wir von außen, aus der Diaspora haben. Die Menschen vor Ort denken bei der Bedrohung durch die Hisbollah an das Schlimmste, sie haben Assoziationen mit dem Holocaust, sie denken an die totale Katastrophe. Und da sehen viele die militärische Option als einzigen Weg. Und das, obwohl in den letzten zwei Wochen ein General der Hisbollah sagte, dass sie die Gefechte einstellen würden, wenn es ein eine Waffenstillstand und ein Deal mit der Hamas gäbe.

Wie steht es um die Proteste gegen den Krieg in Israel?

Ich habe ein paar Proteste gesehen in Haifa und in Tel Aviv. Sie sind stark, mutig und kreativ. Sie fordern ein Geisel-Abkommen und einen Waffenstillstand in Gaza. Sie thematisieren beispielsweise auch, dass aufgrund der Eskalation an der Süd- und Nordgrenze Israels, Menschen auf der Flucht sind. Sie sind Geflüchtete im eigenen Land. Die Netanjahu Regierung hilft diesen Menschen nicht.

Die Wut auf die Regierung ist groß. Netanjahu denkt nicht die ganze Gesellschaft mit. Er ist beschäftigt mit seinem eigenen politischen Überleben und nutzt den Krieg, um den autoritären Umbau Israels (der schon in der Justizreform vorgesehen war), voranzutreiben. Menschenrechte werden eingeschränkt, zum Beispiel von politischen Gefangenen. Palästinenser*innen bekommen in den Gefängnissen weniger zu Essen als israelische Insassen. Auch die Pressefreiheit wird angegriffen, wie im Fall des Verbots von Al Jazeera.

Die Proteste richten sich gegen all das. Aber auch diese Protestbewegung kann Netanjahu nicht zwingen, den Krieg zu beenden. Der Protest hat viel Stimme, aber keine Macht. Die Proteste überschneiden sich personell mit den Protesten gegen die Justizreform, allerdings war diese Bewegung von größerer Bedeutung. Ich sehe nicht, dass sich die Anti-Kriegs-Proteste weiter intensivieren werden. Während eines Kriegs stehen viele Leute hinter der eigenen Regierung, geeint als ein Land gegen den Feind. Das ist auch das Narrativ der israelischen Medien.

Viele Regierungskritiker*innen hoffen deshalb darauf, dass Politiker*innen die Regierung verlassen und die Koalition zerbricht. Dann gäbe es Neuwahlen, aber natürlich auch die Gefahr, dass rechte Parteien weiter an Stärke gewinnen.

Ende Oktober 2023 schrieben Sie in der Analyse&Kritik, dass eine friedliche Koexistenz zwischen Palästinenser*innen und jüdischen Menschen möglich ist. Hat sich diese Auffassung im Laufe der letzten Monate verändert?

Meine Meinung hat sich nicht verändert. Ich glaube weiterhin, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist, auch wenn es gerade sehr schwer ist. Es braucht einen echten Friedensprozess, der die Rechte beider Seiten anerkennt. In Israel und Palästina ist das Ende des Kriegs und das Weitermachen der Netanjahu Regierung zunächst eine politische Frage.

In der Diaspora sind wir in einer anderen Position, weil palästinensische und jüdisch-israelische Menschen zusammenleben. Die Frage ist, wie wir diese Gelegenheit nutzen, uns zu treffen und miteinander zu sprechen. Gerade ist die Situation nicht so einfach, weil beide Seiten tief in Trauer und Leid stecken. Jeden Tag sterben Menschen. Vor diesem Hintergrund ist es schwer, Begegnung zu schaffen.

Vor drei Jahren habe ich das Middle-East-Union-Festival kuratiert. Es ging darum, aus der Diaspora heraus mit Palästinenser*innen und jüdisch-israelischen Menschen einen friedlichen Nahen Osten zu imaginieren. Wir nutzten diese Möglichkeit, hier in der Diaspora zu reden und zu diskutieren. Aktuell habe ich das Gefühl, dass diese Tür verschlossen ist.

»Es wird viel getrauert.«

Natürlich gibt es Diskussionen über den Krieg und Demonstrationen dagegen. Aber es gibt kein gemeinsames Sprechen über Zukunft. Mein Wunsch ist, dass es möglich wäre, aber die Realität ist anders. Es wird viel getrauert. Und ich verstehe das. Wenn Leute Freund*innen oder Familie verloren haben, dann wollen sie nicht sofort nach einer Lösung suchen. Erst kürzlich musste eine palästinensisch-israelische Lesung abgesagt werden. Die palästinensische Kuratorin erhielt kurz vor der Veranstaltung die Nachricht, dass ein Familienmitglied in Gaza getötet wurde.

Das ist die Situation, in der wir uns befinden. Mein Wunsch ist, dass wir unsere Treffpunkte und Räume, beispielsweise in Berlin nutzen können, aber wahrscheinlich müssen wir bis zum Ende des Kriegs warten.

Welche Vision hast du für einen friedlichen Nahen Osten? Und wie kommt man dieser Hoffnung ein Stück näher?

Ich glaube, dass ein Friedensabkommen zwischen Israel und Palästina auch zu einer Deeskalation und Befriedung der Nordgrenze zwischen Israel und der Hisbollah führen könnte. Ein Friedensabkommen zwischen Israel und Palästina, das von gemäßigten muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien, den Emiraten, Ägypten, Jordanien, Bahrain, Marokko und anderen vermittelt wird, kann in der Lage sein, Gaza wiederaufzubauen. Eine Voraussetzung dafür ist ein nachhaltiger Waffenstillstand und die Freilassung aller zivilen Geiseln und Gefangenen. Unter diesen Umständen haben auch einige Hisbollah-Funktionäre in Aussicht gestellt, das militärische Vorgehen gegen Israel einzustellen. Ein entmilitarisierter Staat Palästina neben dem Staat Israel wäre die Sicherheitsgrundlage für den Fortbestand der jüdischen Existenz im Nahen Osten. Wir sehen bereits, dass sich ohne ein Friedensabkommen nur noch mehr Fronten öffnen. Und es herrscht große Unsicherheit darüber, ob Israel überleben kann, sollte die Unterstützung westlicher Staaten irgendwann bröckeln.

Wie sehen Sie die Verantwortung Deutschlands? Gibt es etwas, was Sie an die deutsche Öffentlichkeit loswerden wollen?

Deutschland ist ein Teil dieser Geschichte. Deutschland schickt Waffen nach Israel und nutzt die eigene Position nicht, um Druck für einen Waffenstillstand und einen Geiseldeal auszuüben. Das ist eine schwierige Sache mit den Waffenlieferungen in solch einer Situation. Natürlich sorgt sich Deutschland um Israel, aber die Frage ist, welches Israel? Das von Smotrich, Ben-Gvir und Netanjahu? Die Regierung in Israel ist gefährlich und vertritt rassistische Werte ähnlich der AfD. Dieser Schwierigkeit muss sich die deutsche Gesellschaft und Regierung stellen. Es geht um die Frage, ob sie ein liberales Israel schützen oder diese rassistische Regierung unterstützen wollen.

Auch die pauschale Verurteilung von Palästinenser*innen muss aufhören. Die Palästinenser*innen haben ihr eigenes Narrativ. Seit 1948 leben viele mit der Realität ihrer Vertreibung. Viele sind Fremde in ihrem eigenen Land. Wenn sie die Anerkennung der Nakba fordern, dann nicht als Auslöschung Israels, sondern als eine Anerkennung ihrer Leidensgeschichte. Es gibt Palästinenser*innen, die schon seit drei Generationen in Deutschland leben. Deren Geschichten müssen gehört werden. Empathie aufzubringen ist wichtig, um überhaupt an eine Lösung denken zu können. Wenn wir über „Nie wieder“ und die Vergangenheit Deutschlands reden, dann reden wir über Menschenrechte. Menschenrechte gelten für alle, auch für Palästinenser*innen.

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Auch deshalb muss stärker abgewogen werden, welche Form von Beziehung Deutschland mit der israelischen Regierung haben kann. Netanjahu sagt öffentlich, dass er keinen palästinensischen Staat will. Wie lange sollen Palästinenser*innen noch ohne die gleichen Rechte wie die jüdisch-israelische Bevölkerung? Diese Kritik will ich von der Scholz, Baerbock und der Ampelkoalition hören.

Wir müssen Empathie für beide Seiten aufbringen. Das ist der erste Schritt in Richtung Frieden. Ich war selbst in der Armee, ich habe lange in Israel gelebt. Ich habe gelernt, was meine Geschichte ist und dass sie mit der Geschichte der Palästinenser*innen zusammenhängt. Für mich gibt es kein entweder „Free Gaza“ oder „I stand with Israel“. Ich stehe dazwischen.

Anni Eble arbeitet im iz3w. Die Gedichte von Mati Shemoelof sind auch online erhältlich.

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